Süddeutsche Zeitung

Gipfeltreffen in Genf:Putins Rendezvous mit dem Lieblingsfeind

Wie der Kreml die Gegnerschaft zu den USA anheizt - und sie auch im Kampf gegen Kritiker im eigenen Land nutzt.

Von Silke Bigalke, Moskau

Kurz vor seiner Reise nach Genf darf Wladimir Putin die Frage selbst beantworten: "Herr Präsident, sind Sie ein Killer?" US-Präsident Joe Biden jedenfalls hält ihn für einen. Putin lacht auf die Frage des NBC-Journalisten, der US-Sender hat ein Exklusivinterview bekommen. Dann erzählt der Kremlchef etwas von Hollywood, von Machos und davon, dass er solche Anschuldigungen schon oft gehört habe. Eine Antwort aber bleibt er schuldigt.

Soll Biden ihn ruhig für einen Mörder halten. Wichtiger ist für Putin, dass der US-Präsident sich trotzdem mit ihm trifft. In Genf erwartet zwar niemand große Einigungen. Doch anders als Joe Biden profitiert der Kremlchef bereits von der Einladung zum Gespräch. Der US-Präsident erkennt damit an, dass er mit Putin reden muss - und sei es nur, um größeren Schaden zu vermeiden. Wenn der Kremlchef schon nicht als gleichberechtigter Partner wahrgenommen wird, will er wenigstens als ernst zu nehmender Gegner gelten.

Die USA sind aus russischer Perspektive längst der Lieblingsfeind. Das Verhältnis zu Washington ist der Kern, um den sich Putins Außenpolitik dreht - und immer häufiger auch seine Innenpolitik. Denn das Feindbild, das der Kreml pflegt, motiviert nicht nur genügend Russen, sich hinter ihrem Präsidenten zu versammeln. Es liefert Putin auch eine Erklärung für alle möglichen Unzufriedenen in seinem Land. Kritiker und russische Oppositionelle seien von ausländischen Mächten - also den USA - gesteuert, so die Botschaft seiner Propaganda.

Putin wäre gerne der große Gegenspieler eines liberalen Westens

Ein Präsident wie Joe Biden, der sich für Menschenrechte einsetzt und Putins Umgang mit Oppositionellen kritisiert, bestätigt diese These in der Kreml-Logik nur. "Jede Verschlechterung der Beziehungen zum Westen", schrieb Innenpolitikexperte Andrej Kolesnikow nach Bidens Wahlsieg, habe "immer auch negative Auswirkungen auf Russlands Zivilbevölkerung, weil der Staat den Druck auf sie verdoppelt". Immer mehr kritische Medien und NGOs werden als "ausländische Agenten" gelistet, anderen wird die Arbeit ganz verboten. Die Organisationen des Oppositionellen Alexej Nawalny sind als "extremistisch" eingestuft worden, weil sie angeblich die russische Gesellschaft destabilisieren. Nawalny gilt als Instrument westlicher Geheimdienste - kein Wunder also, wenn Biden sich nun für ihn einsetzt.

Die Welt, wie der Kreml sie den Russen verkauft, ist so bipolar, wie Putin sie sich wünscht. Es gibt Russland und die USA, alle anderen drehen sich um diese Pole. In seiner Rede an die Nation hat Putin das kürzlich in einer kryptischen Metapher dargestellt. Manche Länder hackten ständig auf Russland herum, sagte der Präsident. Diese Länder verglich er mit Schakalen, die sich wie jene Artgenossen im "Dschungelbuch" um den bösen Tiger Shir Khan versammelten. Wenn die USA der Tiger sind, dann sollen die speichelleckenden Schakale wohl die Europäer sein. Putin sagt das so nicht. Er sagt: "Kipling war ein großer Schriftsteller."

Der Präsident weiß natürlich, dass die Welt komplizierter ist. Er wäre gerne der große Gegenspieler eines liberalen Westens. Oder zumindest gleichberechtigt mit den USA, wenn es darum geht, globale Konflikte zu lösen wie Terrorismus, Corona, den Klimawandel. Deswegen bietet er sich Washington immer wieder auch als zweifelhafter Partner an und fühlt sich dann demonstrativ abgewiesen.

Als er im März zusätzliche Truppen an der ukrainischen Grenze aufziehen ließ, erklärten sich das russische Beobachter auch damit, dass er Präsident Bidens Reaktion testen wollte. Mit dessen Anruf und der Einladung, sich zu treffen, hatte Putin womöglich gar nicht gerechnet. Er ließ sich Zeit mit seiner Zusage. Seither scheint es so, als achteten beide darauf, Eskalationen genauso zu vermeiden wie Zugeständnisse. Die Sanktionen, die Biden nach dem Gespräch gegen Russland verhängte, hätten aus Moskauer Sicht verheerender ausfallen können. Putin ließ die Truppen kurz darauf von der ukrainischen Grenze abziehen, ließ Alexej Nawalny in einem zivilen Krankenhaus behandeln. Nicht unbedingt, weil Washington das gefordert hatte. Vermutlich wollte er den Bogen einfach nicht überspannen.

Moskaus doppelte Propaganda wird weitergehen

In Genf wird dieses Austesten weitergehen. Die beiden Präsidenten werden einander an ihre jeweiligen "roten Linien" erinnern, allein das kann nützlich sein. Für Putin wäre das wahrscheinlich eine Einmischung der Amerikaner in Belarus oder in innenpolitische Angelegenheiten, ein ukrainischer Nato-Beitritt. Genauso wie Biden ist Putin nicht an Eskalation interessiert. Auch für den Kremlchef ist "strategische Stabilität" ein wichtiges Thema, auch er möchte darüber sprechen, wie sich die beiden Atommächte nach Ende des INF-Vertrags über ihren Umgang mit nuklearen Waffen einigen können. Die Themenliste selbst sagt zunächst nicht viel aus: Cyberkriminalität, Klimafragen, die Arktis, Covid-19, später Iran, Bergkarabach und Libyen zum Dessert.

Putin wolle wahrscheinlich herausfinden, schreibt Dmitrij Trenin vom Moskauer Carnegie-Zentrum, "wo Bidens wahre Sorgen liegen", wo er sensibel reagiert, wo "gegenseitige Zurückhaltung" nützlich sein kann. Die Konfrontationen würden weitergehen, aber hoffentlich mit "sicheren Leitplanken", so Trenin.

Auch die doppelte Propaganda wird weitergehen. Nach außen wird sich Putin als Partner anbieten, nach innen die USA verteufeln. Biden will sich nicht für eine gemeinsame Pressekonferenz neben Putin stellen? Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow findet das nicht schlimm, in Großbritannien sei Biden auch allein aufgetreten. Im russischen Staatsfernsehen wird es als Zeichen von Schwäche zerrissen: Biden habe wohl Angst, dass Putin dabei besser aussehe.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5323193
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.