Süddeutsche Zeitung

Klimaschutz:Die EU muss über Floskeln hinauskommen

Europa will der erste klimaneutrale Kontinent werden. Doch die oft beschworene "weltweite Führungsrolle" der EU in Sachen Klimapolitik bleibt eine Worthülse, wenn nicht mal alle Mitglieder der Union dabei mitmachen.

Kommentar von Matthias Kolb, Brüssel

Meilenstein oder Mogelpackung - die Bewertung des Ergebnisses des EU-Gipfels zur Klimapolitik ist eine Frage der Perspektive. "Ja, Europa wird der erste klimaneutrale Kontinent sein", twitterte Emmanuel Macron. Frankreichs Präsident gehört wie Kanzlerin Angela Merkel zu jenen Politikern, die zum Jahresende einen Durchbruch herbeireden wollen. Sie betonen, dass die EU einen Plan fasst, bis 2050 nicht mehr Schadstoffe in die Atmosphäre auszustoßen als eingespart werden können.

Fraglos sind die Fortschritte groß, wenn man bedenkt, dass sich im Mai erst neun EU-Staaten zu diesem Ziel bekannten und die alte Formel "zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts" hinter sich ließen. Nun liegt die Zahl bei 27 (mit Großbritannien), doch ein Land verweigert weiter die konkrete Zusage: Polen. Die bald sechstgrößte Volkswirtschaft pocht auf weitere Zusagen, wie Brüssel die Transformation weg von der Kohle unterstützen wird. Wer das Ergebnis als Mini-Kompromiss sieht, liegt nicht falsch.

Nüchtern betrachtet war nicht mehr drin. Niemand bestreitet, dass Polen vor einer gewaltigen Herausforderung steht. Zudem will die regierende PiS ihre Verhandlungsposition für das nächste EU-Budget verbessern und zu Hause die Präsidentenwahl im Mai gewinnen. Zugleich hatten alle Staats- und Regierungschefs kein Interesse daran, das neue Führungsduo zwei Wochen nach Amtsantritt zu beschädigen. Ursula von der Leyen und die EU-Kommission verfolgen mit dem gerade präsentierten "Grünen Deal" ehrgeizige Ziele, und EU-Ratspräsident Charles Michel drängte heftig auf das Bekenntnis zu 2050. Eine Spaltung durfte es also nicht geben, und so wird in Brüssel betont, dass Warschau das Ziel mitträgt und sich in den nächsten Monaten schon noch anschließen werde - auch weil es dafür genug Daumenschrauben gibt.

Lehrreich und ernüchternd ist das Resultat des Gipfels dennoch. Das gegenseitige Vertrauen unter den Mitgliedstaaten ist weiter ausbaufähig und schmilzt, wenn es ums Geld geht. Das zeigen die Verhandlungen über den EU-Haushalt bis 2027. Doch der zur Klimaneutralität nötige Umbau von Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag wird ohne Umverteilung kaum gelingen. Und die zurzeit dauernd bemühte "weltweite Führungsrolle" in der Klimapolitik bleibt eine Floskel, wenn nicht mal im eigenen Klub alle zum Mitmachen bewogen werden können.

Die mangelnde Glaubwürdigkeit bleibt das große Problem der Europäer. Wer die regelbasierte Ordnung wahren will, sollte zuerst eigene Verpflichtungen einhalten. Die UN-Experten geben der Welt bis 2030 Zeit, die Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, um das Schlimmste zu verhindern. Doch Deutschland und viele andere verfehlen weiter die Zusagen des Pariser Abkommens. Wer sonst Wissenschaft als Maßstab nimmt, muss viel schneller viel mehr tun. Die Zivilgesellschaft wird Taten fordern, aus Sorge um die Lebensgrundlage der Kinder und Enkel oder weil die Auswirkungen - vor allem außerhalb Europas - spürbar werden. Es sind bis 2050 noch 30 Jahre. Das heißt aber nicht, dass der Welt noch so viel Zeit bleibt, denn zwischen 1989 und heute wurde etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids ausgestoßen, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat. Jeder EU-Gipfel zählt also.

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Quelle:
SZ vom 14.12.2019/jael
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