Süddeutsche Zeitung

Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs:Brüssel berät über Erdoğans Wunschliste

Ohne Gegenleistungen wird die Türkei nichts tun, um den Flüchtlingsstrom nach Europa zu bremsen. Auf dem Gipfel in Brüssel muss die EU klären, wie weit sie Ankara entgegenkommen will.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

Da war doch noch was. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, hat in seinem Einladungsschreiben zum Brüsseler Gipfel die Themen aufgezählt, über die an diesem Donnerstag zu sprechen sein wird. Was soll aus dem Dublin-System werden, das die gemeinsame Asylpolitik der EU regelt und so offenkundig nicht mehr funktioniert? Und wie geht es weiter mit dem Konzept der "Hotspots", das endlich wieder so etwas wie Ordnung schaffen soll an den Außengrenzen?

Dies alles ist kompliziert. Die unangenehmsten Themen aber hat Tusk fürs Abendessen reserviert. Da will er mit den Staats- und Regierungschefs über die "internationalen Aspekte" sprechen. "Den Luxus, uns vor den geopolitischen Herausforderungen zu drücken, können wir uns nicht mehr leisten", so ein EU-Diplomat. Soll heißen: Die Moral allein kann der Maßstab nicht sein.

Konkret wird Tusk wissen wollen, wie weit die Chefs bereit sind, der Türkei entgegenzukommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat klargemacht, dass er ohne Gegenleistungen nichts tun wird, um den Flüchtlingsstrom gen Europa zu bremsen. Seit einem Besuch Erdoğans jüngst in Brüssel gibt es an dessen Wunschliste keine Zweifel mehr.

Ganz oben steht die Einrichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien. Überdies wünscht er die Eröffnung eines neuen Kapitels in den Beitrittsverhandlungen mit der EU. Das Kapitel 24 soll es sein, das sich den heiklen Themen Sicherheit und Justiz widmet. Wichtig ist den Türken, als sicheres Herkunftsland eingestuft zu werden - eine Forderung, die der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch erstmals unterstütze. Außerdem will Erdoğan endlich Fortschritte bei der Visa-Liberalisierung. Und: Die EU soll Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aus der Türkei übernehmen.

Wenig Verständnis für die "gemischten Signale" aus Berlin

Das Land ist in jüngster Zeit nicht demokratischer geworden, im Gegenteil. Dennoch kann es sich die EU, da herrscht ziemliche Einigkeit, nicht länger leisten, der Türkei Zugeständnisse zu verweigern. Viele sehen nun vor allem Deutschland in der Pflicht und haben wenig Verständnis für die "gemischten Signale" aus Berlin, wie es ein Diplomat formuliert. Schon deuten Regierungskreise in Berlin an, dass man zu Bewegung bereit sei. Am Sonntag reist Angela Merkel nach Istanbul, begleitet von hohen Erwartungen.

Nicht weniger schwierig ist das Thema Syrien. Schon beim Treffen der Außenminister Anfang der Woche war klar geworden, dass bisherige Leitsätze nicht mehr einfach so gelten. Diktator Baschar al-Assad und sein Regime müssten irgendwie in eine Friedenslösung einbezogen werden, fordern etliche. Und einige hoffen, mit Russland in der Syrien-Frage doch noch an einen Tisch zu kommen. Bei den Atomverhandlungen mit Iran, argumentieren sie, habe das doch auch geklappt.

Ansonsten ist in der Flüchtlingskrise bei vorigen Treffen einiges angeschoben worden, das noch abschließend zu klären wäre. Während die ersten Flüchtlinge nun umverteilt werden, bleibt das Konzept der Hotspots wolkig. In Papieren der EU-Kommission liest sich das leichter, als es vermutlich umgesetzt werden kann. In diesen Papieren sind die Hotspots eine Art mobiler Service, den europäische Fachleute an Brennpunkten in Italien und bald auch in Griechenland erbringen sollen.

Die deutsche Regierung stellt sich darunter jedoch etwas weitaus Konkreteres vor: nämlich einen Ort, an dem Flüchtlinge nicht nur identifiziert, registriert und erstversorgt werden. Vielmehr sollen sie von dort auch umverteilt und gegebenenfalls abgeschoben werden. Das werde aber eine Weile dauern, heißt es in Berlin, weshalb an größeren Aufnahmelagern in den Hotspots kein Weg vorbeiführe.

Unklar bleibt auch, was zu tun ist, wenn sich ein Migrant, wie es zu erwarten ist, wehrt: gegen die Abnahme von Fingerabdrücken, gegen eine Umsiedlung oder eine Abschiebung. Mit klaren Antworten sei nicht zu rechnen, sagen EU-Diplomaten. Das gilt auch für die Pläne zu einer europäischen Grenzsicherung.

In der Praxis ist das Dublin-Verfahren längst Geschichte

Doch all das sind Kleinigkeiten verglichen mit der Frage, was aus dem europäischen Asylsystem wird. Das offiziell noch geltende Dublin-Verfahren sieht den Verbleib von Flüchtlingen an ihrem Ankunftsort in der EU vor - in der Praxis ist das längst Geschichte. Auch Merkel hat das System "obsolet" genannt. Doch EU-Diplomaten warnen: "Es ist extrem gefährlich, Dublin für tot zu erklären, ohne eine Alternative zu haben." Die aber wird sich beim Gipfel nicht einmal abzeichnen.

Der Wunsch nach Klarheit wird auch beim Thema Großbritannien eher nicht erfüllt werden. Über das Referendum über einen britischen Austritt aus der EU wird zwar kurz gesprochen werden. Britische Medien spekulieren aber schon, ernsthafte Gespräche über die von der Londoner Regierung gewünschten Konzessionen könnten vielleicht erst im Frühjahr beginnen und nicht schon im Dezember, wie eigentlich geplant. In EU-Kreisen heißt es, die Regierung von David Cameron müsse endlich mitteilen, was sie genau erreichen wolle, und dies am besten in schriftlicher Form. Die Briten beruhigen derweil: "Wir sind genau so weit wie geplant." Bis zum EU-Gipfel im Dezember werde Cameron wohl liefern, in welcher Form auch immer.

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SZ vom 15.10.2015/pamu
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