Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat die Wahlen vor zweieinhalb Jahren unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, dafür zu sorgen, dass weniger Migranten übers Mittelmeer ins Land kommen. Einmal im Amt, hat die rechte Politikerin zwar ihre radikalen Ankündigungen kassiert, etwa eine Seeblockade errichten zu wollen. Aber sie bleibt hartnäckig – und kämpft mit dem politischen Gegner von links, vor allem aber mit der Justiz. Die Schlüsselfrage ist noch nicht entschieden, wer, insbesondere in der Migrationspolitik, das letzte Wort hat: die Regierung oder die unabhängige Justiz.
Melonis spektakulärstes Projekt ist eine Vereinbarung mit Albanien auf der anderen Seite der Adria, wo in der Hafenstadt Shëngjin ein Aufnahmezentrum und in der Nähe ein Abschiebelager errichtet wurden, die der italienischen Hoheit unterstehen. Dorthin sollen auf See aufgegriffene Migranten gebracht und überprüft werden, sodass jene ohne Bleibeperspektive italienischen Boden erst gar nicht betreten.
Das ungewöhnliche Projekt, Ergebnis eines Urlaubstreffens der beiden in gegenseitiger Zuneigung verbundenen Regierungschefs Giorgia Meloni und Edi Rama, fand in der EU teilweise große Beachtung und Zustimmung. Allerdings stellen sich schwerwiegende juristische Fragen des nationalen und des Europarechts. Italienische Gerichte haben die bisher zwei Anläufe, die Lager zu nutzen, durchkreuzt. Diejenigen, die dort schon untergebracht waren, mussten allesamt nach Italien transferiert werden. Der Streit geht vor allem darum, welche Herkunftsländer als sicher beurteilt werden können und wer die Kompetenz hat, dies festzulegen. Trotz der unklaren Rechtslage versucht Meloni es immer wieder. Am Dienstag hat ein italienisches Kriegsschiff – dritter Anlauf – erneut 49 Flüchtlinge abgeliefert, die vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa abgefangen wurden.
Meloni hält sich zugute, dass sich die Zahl der Flüchtenden weit mehr als halbiert hat
Bisher erfolgreicher sind maßgeblich von Meloni betriebene Abkommen der EU mit den Anrainerstaaten des Mittelmeers, vor allem Tunesien und Libyen. Sie sollen gegen Geld Flüchtenden daran hindern, sich auf die Überfahrt nach Italien zu wagen. Das ist unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten hochumstritten, es gibt Berichte über Gewalt und Folter und den Tod von Fluchtwilligen. Meloni hält sich zugute, dass sich die Zahl der Flüchtenden weit mehr als halbiert hat: 66 317 kamen 2024 in Italien an, nach 157 000 im Jahr 2023.
Jedoch erwächst ihr womöglich soeben aus ihrer Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Machthabern und Sicherheitskräften ein weiteres politisches und rechtliches Problem. Die Staatsanwaltschaft Rom prüft den Vorwurf der Beihilfe zu einem Verbrechen durch die Ministerpräsidentin und mehrere ihrer Minister. Meloni wäre nicht Meloni, wenn sie nicht aus einem Justizvorgang, der sich gegen die Regierung richtet, einen persönlichen Fall machen würde.
Kaum war ihr das einseitige Schriftstück der Staatsanwaltschaft zugestellt worden, nahm sie am Dienstagabend ein Video für ihre Social-Media-Kanäle auf: Dort erklärte sie, dass sie eine Nachricht über die Einleitung von Ermittlungen erhalten habe – aufgeschrieben auf einem Din-A4-Blatt, das sie zweimal gefaltet in der Hand und dann auseinandergeklappt in die Kamera hielt; die Empörung war ihr deutlich anzusehen. Die Nachricht sei ausgestellt von jenem Staatsanwalt, setzte sie gleich zu Beginn den Ton, der auch gegen ihren Vize Matteo Salvini ermittelt habe (der frühere Innenminister wurde im Dezember vom Vorwurf der Geiselnahme von Flüchtlingen auf einem Rettungsboot freigesprochen). Zugrunde liege die Anzeige eines Anwalts, welcher der politischen Linken nahestehe und im Übrigen auch schon jede Menge Mafia-Bosse verteidigt habe. Am Ende der zweieinhalbminütigen Botschaft stellte Meloni klar, dass sie nicht zurücktreten und weiter für das Wohl des Landes arbeiten werde, auch wenn das manchem nicht passe: „Ich lasse mich nicht erpressen, und ich lasse mich nicht einschüchtern.“
Ein Rücktritt steht zwar ohnehin nicht zur Debatte, aber der Vorgang an sich ist in der Tat in Italien heiß umstritten. Im Mittelpunkt steht ein Mann namens Osama Almasri Najeem, Brigadegeneral der libyschen Kriminalpolizei. Er befand sich vergangene Woche auf einer Tour durch mehrere europäische Staaten, obwohl der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hat. Es geht um Mord, Folter und Vergewaltigung von Gefangenen in Libyen.
Meloni sieht sich von der Justiz des Landes verfolgt
Aufgrund des Haftbefehls war er in Turin festgenommen worden. Wegen eines Formfehlers, wie es heißt, wurde er kurz darauf aber wieder freigelassen. Meloni ließ ihn in einer italienischen Regierungsmaschine ausfliegen. In der libyschen Hauptstadt Tripolis wurde er begeistert empfangen. Der Strafgerichtshof in Den Haag erklärte, über die Freilassung nicht informiert worden zu sein, und forderte deswegen von Italien eine Erklärung. Regierungspolitiker reagierten trotzig. Außenminister Antonio Tajani sagte, der Strafgerichtshof sei „nicht das Wort Gottes und nicht die Quelle aller Wahrheit“. Italien sei ein souveränes Land, „wir treffen unsere eigenen Entscheidungen“.
Meloni wiederum konzentriert sich auf die Kritik an der Justiz im eigenen Land. Zwar sah sich die Richtervereinigung zu der Erklärung veranlasst, dass die Mitteilung an Meloni und die Minister Formsache sei und nichts darüber aussage, ob die Justiz die Anzeige des Anwalts weiterverfolgen werde. Doch Melonis Rechtsaußenkoalition sieht darin nur einen weiteren Beleg für den politisch motivierten Versuch linker Richter und Staatsanwälte, sich ihr in den Weg zu stellen. Nicht zuletzt deshalb treibt ihre Koalition gerade gegen den erbitterten Widerstand von Richtern und Staatsanwälten eine Reform voran, die die Unabhängigkeit der Justiz einschränken soll.