Giftgasanschlag auf Ex-Spion:Wie Theresa May Russland bestrafen könnte

  • Um Mitternacht läuft das Ultimatum der britischen Regierung an Moskau ab.
  • Premierministerin May hält es für "höchstwahrscheinlich", dass Russland für den Giftgas-Anschlag auf Ex-Doppelagent Skripal verantwortlich ist und kündigt harte Sanktionen an.
  • Als mögliches Szenario gilt laut britischen Medien ein Cyberangriff, zudem könnten russische Diplomaten ausgewiesen und Konten eingefroren werden.

Von Matthias Kolb

Die Beziehungen zwischen Großbritannien und Russland sind seit Jahren angespannt, wiederholt wurde berichtet, dass es zwischen Außenminister Boris Johnson und seinem Amtskollegen Sergej Lawrow kaum Kontakte gibt. Seit dem 4. März spitzt sich die Lage zu: An diesem Abend wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia in Salisbury auf einer Parkbank vergiftet aufgefunden - beide kämpfen bis heute um ihr Leben. Dem britischen Polizisten, der sich um sie kümmerte und dabei ebenfalls mit dem Gift in Kontakt kam, geht es inzwischen wieder besser.

Sehr schnell gingen die britischen Ermittler von einem Anschlag mit einem Nervengift aus und zu Wochenbeginn sprach Theresa May aus, was viele vermutet hatten: Es sei "höchstwahrscheinlich", dass Moskau für diese Attacke verantwortlich sei. Die Premierministerin fordert Erklärungen vom Kreml - und zwar bis Mitternacht am heutigen Dienstag. Nun wird diskutiert, wie May weiter vorgeht: Kommt ein Cyberangriff? Werden Diplomaten ausgewiesen und Konten eingefroren? Boykottiert England sogar Putins Prestigeprojekt, die am 14. Juni beginnende Fußball-WM in Russland?

Hier ein Ausblick auf die kommenden Stunden und Tage sowie ein Überblick über die Optionen der Briten und ihrer Verbündeten.

Das wirft Theresa May Moskau vor

Vor dem Unterhaus erklärte die konservative Premierministerin sehr detailliert, wieso Moskau "höchstwahrscheinlich" hinter dem Anschlag auf Skripal und seine Tochter stecke. Für diesen Mordversuch sei ein extrem seltenes, in staatlichen russischen beziehungsweise früheren sowjetischen Laboren hergestelltes Nervengift ("Nowitschok") eingesetzt worden. Für May gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder wurde diese "unverschämte und ruchlose Attacke" (Innenministerin Amber Rudd) im Auftrag des russischen Staates ausgeführt. Oder Moskau habe die Kontrolle über das höchstgefährliche Nervengift verloren, wodurch es in fremde Hände geraten sei.

An diesem Dienstag tritt nach dem morgendlichen Kabinettstreffen das sogenannte Cobra-Notfallkomitee zur Sondersitzung zusammen. Zur Cobra-Runde gehören neben Innenministerin Rudd und weiteren Mitgliedern der Regierung auch Vertreter der Sicherheitsdienste. Mit einer ernsthaften Antwort Moskaus auf das Ultimatum rechnet in London niemand; bevor es um Mitternacht (Ortszeit) verstreicht, werden wohl Gespräche mit Verbündeten geführt und Szenarien durchgespielt.

Diese Optionen werden diskutiert

Die Äußerungen Mays vor dem Parlament waren sehr klar: Falls Moskau nicht sein Nervengift-Programm offenlege, werde London Sanktionen bekannt geben, die weit härter als jene Maßnahmen sein würden, die nach der Ermordung von Alexander Litwinenko 2006 in London ergriffen worden seien. Diese Sanktionen würden mit den Partnern in EU und Nato abgestimmt. In ihrer Rede sprach May selbst an, warum sie unter Druck steht: Durch das eingesetzte Nervengift seien viele britische Bürger einem tödlichen Risiko ausgesetzt gewesen.

Im Guardian breitet Patrick Wintour die ganze Palette an Strafmaßnahmen aus. Die Ausweisung von Diplomaten wäre der erste logische Schritt. Sollte May den russischen Botschafter Alexander Jakowenko des Landes verweisen, wäre dies ein starkes Signal - woraufhin Moskau mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den britischen Botschafter Laurie Bristow rauswerfen würde.

Als möglich gilt auch, dass London einen Cyberangriff startet, um Moskau für diese "direkte Attacke auf unser Land" zu bestrafen. Die Tageszeitung The Times berichtet, May habe dafür "schon den Weg frei gemacht" und zitiert einen anonymen Beamten, der dies als "wahrscheinlich" bezeichnet. Eine solche Aktion sei durch Artikel 51 der UN-Charta gedeckt und würde als "legitime Selbstverteidigung" angesehen. Die Boulevardzeitung Daily Mail meldet ebenfalls, dass May eine solche Aktion anordnen könnte. Als mögliche Ziele gelten russische Computernetzwerke, die Propaganda verbreiten, sowie die "Trollfabriken", die "fake news" zur Destabilisierung von Demokratie in aller Welt produzieren.

Momentan sei nicht davon auszugehen, dass britische Minister zur Fußball-Weltmeisterschaft in Russland, die am 14. Juni beginnt, anreisen werden, heißt es in diversen Medien. Bisher gibt es noch keine Aufrufe, dass die englische Nationalmannschaft die Fußball-WM boykottieren soll - aber der Ton der Boulevardmedien wird schriller. Die Daily Mail stellt heute die Frage "Wie können wir jetzt zu Putins WM fahren?" und druckt auf einer Doppelseite das Plädoyer "Lasst uns zusammen die WM boykottieren". Zu den Autoren, die dafür plädieren, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin "diesen Propaganda-Coup" zu verhageln, gehört auch Bild-Chefredakteur Julian Reichelt.

Die BBC weist noch auf eine weitere Option hin: Der russische TV-Sender RT (früher firmierte er als Russia Today) könnte in Großbritannien abgeschaltet werden. Die zuständige Behörde Ofcom teilte mit, dass nach der Rede von Theresa May am morgigen Mittwoch über die "Auswirkungen auf die Sendelizenz von RT" beraten werde.

Oppositionsführer Jeremy Corbyn fordert hingegen die Regierung auf, den als Entwurf vorliegenden Magnitzky Act zu unterstützen. Das Gesetz sieht vor, dass etwa 50 in den USA gelistete russische Staatsbürger, denen unter anderem schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, nicht nach Großbritannien einreisen dürften und ihr Vermögen eingefroren wird (Details zum Fall hier).

Ganz am Ende der Eskalationsleiter stehen laut Guardian-Experte Patrick Wintour zwei Schritte. London könnte Russland zum "Staatssponsor von Terrorismus" erklären - mit diesem Etikett bezeichnen die USA ihren Gegenspieler Iran. Und Großbritannien könnte sich auch dafür einsetzen, dass russische Banken den Zugang zum Swift-System verlieren, das die Grundlage des globalen Geldverkehrs darstellt.

So reagiert Russlands Präsident Putin

Am Sonntag möchte sich Wladimir Putin zum vierten Mal zum Präsidenten wählen lassen - abgesehen von einer vierjährigen Auszeit (in der er Premierminister war) regiert er Russland seit 2000. Sollte es noch vor dem Wahltag zu Sanktionen kommen, würde es nach Ansicht von Putin-Experten gut zu dessen "Wir Russen werden vom Rest der Welt zu Unrecht schikaniert und kleingehalten"-Argument passen. Auffällig ist auch, dass Moskau nicht abstreitet, etwas mit dem Anschlag auf Sergej Skripal, den ehemaligen Mitarbeiter des Militärgeheimdiensts, zu tun zu haben. Auch Putin selbst widerspricht der Anschuldigung in diesem Video des Moskauer BBC-Reporters nicht:

So positionieren sich Londons Partner

Eines der Ziele von Theresa Mays Rede war es, deutlich zu machen, dass diese Giftgas-Attacke kein rein britisches Problem sei. Momentan wird wohl viel mit den Verbündeten in Nato und EU gesprochen, wobei wegen der Brexit-Verhandlungen die Beziehungen angespannt sind. Am Montag habe Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Solidarität angeboten, meldet etwa Politico. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, teilte mit, dass die EU "sehr besorgt" sei und ergänzte: "Natürlich kann das Vereinigte Königreich auf die Solidarität der EU in dieser Frage zählen."

Erst am Montag hatte die EU Sanktionen gegen Vertraute von Kremlchef Putin und prorussische Separatisten um weitere sechs Monate verlängert. Andererseits betont etwa der Guardian, dass Bundeskanzlerin Merkel bei der gestrigen Pressekonferenz erklärt habe, mit Moskau im Gespräch bleiben zu wollen. Und angesichts des Wahlergebnisses mit großen Erfolgen für EU-skeptische Parteien sei auch damit zu rechnen, dass die künftige italienische Regierung eher einen russlandfreundlichen Kurs fahren dürfte.

Der scheidende US-Außenminister Rex Tillerson hat in der Nacht sehr klare Worte gefunden. Er sagte, den Verantwortlichen - "sowohl denen, die das Verbrechen begangen haben als auch denen, die es in Auftrag gegeben haben" - müssten "angemessene, ernsthafte Konsequenzen" drohen. Tillersons Chef, US-Präsident Donald Trump, äußerte sich zunächst nicht zu dem Fall. Sein Verhältnis zu May ist auch nicht pannenfrei (beide kritisierten sich Ende November auf Twitter, nachdem Trump antimuslimische Videos verbreitet hatte) und bislang hat Trump Wladimir Putin noch für nichts kritisiert - sehr zum Ärger seiner eigenen Republikaner.

Es wird sich zeigen, ob die "special relationship" zwischen den USA und Großbritannien noch stabil genug ist, so dass Washington seinen Verbündeten in dieser kritischen Lage unterstützt. Sollte Trump aber weiter schweigen (oder sich gar über May und die Briten lustig machen), dann wäre dieser Artikel im Atlantic wohl nur der Anfang - und der trumpkritische Teil Amerikas und der Welt würde weiter über eine Abhängigkeit des US-Präsidenten vom Kreml spekulieren.

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