Giftanschläge in Großbritannien:Das Rätsel um D 3

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Spezialisten durchsuchten 2006 in Hamburg im Zusammenhang mit dem Fall Litwinenko die Wohnung eines russischen Geschäftsmanns. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Erst der Fall Litwinenko im Jahr 2006, jetzt Skripal: Die britische Regierung ist überzeugt davon, dass der Kreml Ex-Agenten töten lässt. Auch die Aussage eines Hamburger Zeugen wies darauf hin, doch die deutsche Justiz glaubte ihm nicht.

Von Georg Mascolo, München

Das Leben des Dmitrij Wadimowitsch Kowtun, kurz: Dima, wie seine Freunde ihn nennen, würde wohl selbst fantasiebegabte Romanautoren an ihre Grenzen führen. Der Absolvent einer Militärakademie und Offizier der Sowjetarmee desertierte 1992 im mecklenburgischen Parchim, um nicht in den Krieg nach Tschetschenien zu müssen. Er schlug sich nach Hamburg durch, beantragte Asyl, arbeitete als Kellner und Tellerwäscher und träumte davon, so erzählte es seine frühere Ehefrau, ein Pornostar zu werden. Daraus wurde nichts.

Stattdessen soll Kowtun auf Anweisung höchster Stellen im Kreml als Auftragsmörder des russischen Geheimdienstes operiert haben - davon ist jedenfalls die britische Regierung überzeugt. Kowtun wird per Haftbefehl gesucht, gemeinsam mit dem heutigen russischen Parlamentsabgeordneten Andrej Lugowoi soll er im November 2006 in einem Londoner Hotel den früheren russischen Geheimagenten Alexander Litwinenko vergiftet haben. In einer Teekanne fanden sich später Spuren des radioaktiven Elements Polonium 210. Auf den Straßen Londons "habe ein kleiner Nuklearschlag" stattgefunden, erklärten britische Abgeordnete.

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Die Briten veröffentlichen Geheimdienstinformationen, die eine russische Täterschaft "sehr wahrscheinlich machen". Seit 2013 seien der Ex-Doppelagent und seine Tochter bereits überwacht worden.

Das Bild von Litwinenko kurz vor seinem Tod geht in diesen Tagen wieder um die Welt. Der britischen Regierung und ihren Verbündeten dient es als früher Beweis dafür, dass der Kreml Überläufer töten lässt - und dies auch bei Sergej Skripal versuchte. Die Parallelen sind verblüffend.

Tatsächlich sind die Belege in der Mordermittlung Litwinenko beeindruckend dicht. Es gab nach jahrelangem Zögern sogar eine öffentliche Untersuchung unter der Leitung des britischen Richters Robert Owen. Russland und die beiden Hauptbeschuldigten verweigerten die Kooperation. Kowtun zog seine bereits gegebene Zusage, sich vernehmen zu lassen, zurück.

Verblüffend ist aber auch, wie unterschiedlich die britische und die deutsche Justiz in einem wichtigen Detail auf den Fall schauen. Ein geheimnisvoller Zeuge, den die britischen Untersuchungsbehörden nur "D 3" nennen, wird in der öffentlichen Untersuchung als einer der Belege für die Verwicklung des russischen Staates in den Mord angeführt. Die Hamburger Justiz indes hält ihn für unglaubwürdig.

Die Staatsanwaltschaft in Hamburg ermittelte gegen Kowtun wegen der "Vorbereitung eines Strahlungsverbrechens" und dem "unerlaubten Umgang mit radioaktiven Stoffen". Es bestand der Verdacht, dass er das Polonium aus Hamburg nach London eingeflogen hatte. Zeitweilig war in Deutschland eine Sonderkommission mit bis zu 659 Beamten im Einsatz, in Anlehnung an den geheimdienstlichen Kinoklassiker nannte sie sich "Dritter Mann". Zur Unterstützung rückte eine Spezialeinheit des Bundes für "nuklearspezifische Gefahrenabwehr" an. Tatsächlich wurden an verschiedenen Stellen in Hamburg Poloniumspuren gefunden, sogar auf einem Vordruck in der Ausländerakte von Kowtun, den er ausgefüllt hatte.

Schließlich wurde ein italienischer Kellner und alter Freund Kowtuns vernommen. Er hatte zunächst nicht viel zu sagen, berichtete dann aber eine bemerkenswerte Geschichte. Kurz vor dem Mord an Litwinenko habe ihn Kowtun auf dem Weg zu einem Casino in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs gefragt, ob er schon einmal den Namen Litwinenko gehört habe, der sei ein "Verräter mit Blut an den Händen". Er habe ein sehr teures Gift, um Litwinenko zu töten, jetzt suche er einen Koch in London, der helfen könne, die Substanz ins Essen oder in ein Getränk zu mischen. Der Kellner will geantwortet haben, warum Kowtun ihn denn nicht einfach erschieße, das sei doch viel einfacher. Kowtun soll geantwortet haben, das ginge nicht, es sei geplant, "ein Exempel zu statuieren". Danach habe der Ex-Offizier noch hinzugefügt, dass er bald eine eigene Wohnung in Moskau besitzen werde.

Die Ermittlungen in Hamburg erwiesen sich als schwierig, die Briten wollten alles wissen, aber wenig sagen. Der Kellner wurde wiederholt vernommen, doch das Verfahren gegen Kowtun wurde am 6. November 2009 eingestellt - er kam davon. Einerseits ließ sich nicht beweisen, dass er in Hamburg tatsächlich Polonium bei sich hatte. Für möglich wurde auch erachtet, Kowtun hätte sich durch "engen Kontakt" mit einer Person vergiftet, die das Polonium besaß oder selbst vergiftet wurde. Es klingt bedauernd, wenn die Hamburger Staatsanwaltschaft heute erklärt, dass die britischen Kollegen aus "Rücksicht auf das dortige Jury-System keine hier verwertbaren Erkenntnisse über die dort getätigten Ermittlungen" mitgeteilt hätten. Die spektakuläre Ermittlung endete im Nichts.

Hat die Hamburger Justiz die Glaubwürdigkeit des Kellners also falsch eingeschätzt?

An den Aussagen des Kellners, so steht es in der Einstellungsverfügung der Hamburger Staatsanwaltschaft, gab es allerdings ohnehin die größten Zweifel. Er sei durch "widersprüchliches Aussageverhalten" aufgefallen, habe zeitweilig gezögert, die Vernehmung zu unterschreiben oder die Angaben vor einem Richter zu wiederholen. Schließlich verabschiedete er sich aus dem Zeugenschutzprogramm. Fazit der Hamburger Ermittler: Es gebe "durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen".

Die Erkenntnisse wurden nach London weitergeleitet. In dem britischen Untersuchungsbericht finden sich die Aussagen von D 3 dennoch an zahllosen Stellen, auch im Kapitel "Feststellungen betreffend die Verantwortlichkeit des russischen Staates". Warum? Richter Owen wies in dem Rapport ausdrücklich darauf hin, dass die Deutschen dem Kellner nicht geglaubt hätten. Er selbst aber komme zu einem anderen Ergebnis. Schließlich könnten nur die Briten, so die Argumentation, die Aussagen in das Gesamtbild aller Informationen einordnen. Deutschland dagegen habe lediglich begrenzte Kenntnisse über das vorliegende Beweismaterial. Hat die Hamburger Justiz die Glaubwürdigkeit des Kellners also falsch eingeschätzt? Oder sind die Briten - jedenfalls in einem Teil ihrer Untersuchung - auf einen nicht glaubwürdigen Zeugen hereingefallen?

Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat in den vergangenen Tagen damit begonnen, einzelne Aktenteile der Hamburger Justiz ins Internet zu stellen, die sie offenbar auf dem Weg der Rechtshilfe erhalten hat. Sie versucht derzeit mit einer Fülle von Erklärungen, die gesamten Litwinenko-Ermittlungen zu diskreditieren. Es ist ein Informationskrieg, in dem Russland zu jedem Mittel greift, und auf den die Staaten des Westens nur mit größtmöglicher Seriosität und Solidität reagieren sollten. Das eingestellte Ermittlungsverfahren 7101 Js 886/06 gegen Dmitri Wadimowitsch Kowtun könnte nun Teil dieser Auseinandersetzung werden.

© SZ vom 16.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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