Arbeit:"Ein schmerzlicher Verlust"

Arbeit: Es liegt nicht nur am Abstand, sie sind wirklich weniger geworden: In der Pandemie haben es die Gewerkschaften schwer.

Es liegt nicht nur am Abstand, sie sind wirklich weniger geworden: In der Pandemie haben es die Gewerkschaften schwer.

(Foto: Axel Heimken/dpa)

Die großen Gewerkschaften verlieren viele Tausend Mitglieder, ihre Verantwortlichen erklären das mit der Pandemie. Damit machen sie es sich zu einfach.

Von Benedikt Peters

Als der langjährige Verdi-Chef Frank Bsirske abtrat, gab er den Gewerkschaftern eine Mahnung mit. Sie müssten "organisieren, organisieren, organisieren", sagte Bsirske, "auf die Menschen zugehen, sie ansprechen und überzeugen." Die Werbung von Mitgliedern sei die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften. Was Bsirske damals, im Frühjahr 2019, natürlich nicht wusste: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist es mit dem Aufeinanderzugehen so eine Sache.

Die großen Gewerkschaften verlieren allesamt Mitglieder. Bei der Chemiegewerkschaft IG BCE, der Nummer drei in Deutschland, waren es im vergangenen Jahr 15 000, bei der IG Metall, der größten Gewerkschaft, 45 000 Mitglieder. Nun gab auch Verdi, die Nummer zwei, Zahlen bekannt. Ihr Mitgliederstand sank ebenfalls um 45 000 und rutschte damit erstmals in der Geschichte von Verdi auf unter 1,9 Millionen. Zusammengerechnet sind das 105 000 Menschen, auf die die Gewerkschaften künftig nicht mehr zählen können, wenn sie zu Arbeitskämpfen und Kundgebungen rufen.

Kurzarbeit, Kontaktregeln und Home-Office erschweren den Kontakt

"Es ist ein schmerzlicher Verlust", sagte der Verdi-Chef und Bsirske-Nachfolger Frank Werneke am Montagabend vor Journalisten, und er sagte es aus guten Gründen. Mitglieder sind für Gewerkschaften überlebenswichtig, und das nicht bloß, weil sie Beiträge zahlen. Sie sind es, die den Funktionären Verhandlungsmacht verleihen, wenn sie mit den Arbeitgebern um höhere Gehälter für Erzieher, Müllwerkerinnen oder Verkäufer ringen. Ohne die Drohung, nötigenfalls Kitas, Betriebe und Verwaltungen mit Streiks lahmzulegen, könnten sie gleich aufgeben. Wie eng der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Arbeitsbedingungen zusammenhängen, zeigen zwei Beispiele: In der Metallindustrie (Organisationsgrad: sehr hoch) gibt es in vielen Bundesländern eine 35-Stunden-Woche und oft Jahresgehälter von 45 000 Euro aufwärts. In der Altenpflege (Organisationsgrad: verschwindend gering) sind die Fachkräfte chronisch überlastet und verdienen im Schnitt gut 7000 Euro weniger.

Gewerkschaftschefs wie Werneke und sein Pendant von der IG Metall, Jörg Hofmann, begründen den Mitgliederschwund mit der Corona-Pandemie. Kurzarbeit, Kontaktbeschränkungen und Home-Office machten es Vertrauensleuten schwerer, Beschäftigte anzusprechen. "Wir hatten beispielsweise - in Präsenz zumindest - keinen Zugang zu Pflegeschulen. Dort allein schaffen wir in normalen Jahren mehrere Tausend Eintritte im Jahr", sagte Werneke. Manche Branchen, etwa Banken und Versicherungen, arbeiten praktisch durchgehend von zu Hause aus. Andere sind heftig gebeutelt von der Pandemie, etwa der Flugverkehr, dort gingen 30 Prozent der Jobs verloren - und wer seinen Arbeitsplatz verliert, der tritt in aller Regel auch aus der Gewerkschaft aus.

Die Gewerkschaften schrumpfen schon seit 30 Jahren

Corona ist also tatsächlich eine Bedrohung für die Gewerkschaften, und trotzdem machen es sich die Verantwortlichen mit ihrer Analyse zu einfach. Die Gewerkschaften verlieren nicht erst seit der Pandemie an Zulauf, sondern schon seit 30 Jahren. Einzelne - mal Verdi, mal die Polizeigewerkschaft GdP, mal die Metaller - hatten zwischendurch auch ganz passable Jahre. Über die Jahrzehnte aber zeigt die Kurve deutlich nach unten: Zwischen 1991 und 2020 hat sich die Mitgliederzahl der acht DGB-Gewerkschaften nicht nur etwas verkleinert; sie hat sich halbiert, von 11,8 auf 5,9 Millionen Menschen.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Traditionell stark sind Gewerkschaften in großen Industriebetrieben, wo es zum guten Ton gehört, sich zu organisieren; die Azubis lassen sich dort recht einfach überzeugen. Von eben jenen Azubis aber gibt es immer weniger, im vergangenen Jahr fiel ihre Gesamtzahl in Deutschland erstmals unter eine halbe Million. Die Jungen gehen stattdessen viel häufiger zur Uni als früher oder sie arbeiten im Dienstleistungssektor, wo die Verhältnisse oft unsicherer und die Firmen kleiner sind. Nicht selten gibt es keinen Betriebsrat, der die Leute ansprechen und werben könnte. "Da kommen wir schwieriger ran", sagte kürzlich DGB-Chef Reiner Hoffmann. Er kritisierte außerdem die oft komplizierte Sprache der Gewerkschaften und forderte, sie müssten nach außen hin weiblicher und jünger werden. Hoffmanns Nachfolgerin Yasmin Fahimi, die im Mai als DGB-Chefin übernimmt, mag vor diesem Hintergrund ein Schritt in die richtige Richtung sein: Sie ist 54, zwölf Jahre jünger als Hoffmann.

Wo bleiben die Frauen?

In Sachen Sprache und Arbeitskultur dürfte es aber um mehr gehen als nur um die erste Reihe der Funktionäre. Zu diesem Schluss kommt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder, der untersucht hat, warum sich den Gewerkschaften weniger Frauen als Männer anschließen, obwohl immer mehr Frauen arbeiten. "Um Mitglieder zu gewinnen, sind Betriebsräte ganz entscheidend", sagt Schroeder. Die Beteiligung von Frauen habe dort zwar etwas zugenommen. "Insgesamt aber ist die Arbeitskultur noch immer stark männlich geprägt. Meist ist auch der Betriebsratsvorsitzende ein Mann. Das schreckt viele Frauen ab."

Schroeder glaubt außerdem, dass Gewerkschaften noch mehr für ihre Mitglieder tun müssten. Tarifabschlüsse kommen in der Regel allen Arbeitnehmern eines Betriebs oder einer Branche zugute, egal ob sie in der Gewerkschaft sind oder nicht. Für Mitglieder gibt es ein paar Sonderleistungen, Rechtsschutz etwa und eine - zuweilen etwas angestaubt wirkende - Mitgliederzeitung.

"Da ist noch Luft nach oben", sagt Schroeder. Er erinnert daran, dass in den kommenden Jahren viele Arbeitnehmer weitergebildet werden müssen, weil ihre Jobs verschwinden werden, wegen der Digitalisierung und wegen der Umstellung auf klimaneutrales Wirtschaften. "Gewerkschaften könnten sich in Stellung bringen als diejenigen, die ihren Mitgliedern bei diesen Umbrüchen helfen, sie beraten und ihnen gute Weiterbildungsangebote vermitteln", sagt Schroeder. Die Gewerkschaften haben viel zu tun, damit die Kurve irgendwann wieder nach oben zeigt.

Anmerkung der Redaktion: In einer frühen Version hieß es fälschlicherweise, die IG BCE habe im vergangenen Jahr 25 000 Mitglieder verloren, sie verlor aber 15 000. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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