Gewerkschaften:Klunckers größter Coup

Karl Christian Führer
Gewerkschaftsmacht und ihre Grenzen

Karl Christian Führer: Gewerkschaftsmacht und ihre Grenzen. Die ÖTV und ihr Vorsitzender Heinz Kluncker 1964-1982, Transcript-Verlag Bielefeld 2017. 649 Seiten, 49,99 Euro. E-Book: 49,99 Euro.

Karl Christian Führer hat eine famose Biografie über den mächtigen Boss der ÖTV vorgelegt, der sich einst mit Willy Brandt anlegte.

Von Werner Bührer

Der Konflikt im öffentlichen Dienst im Frühjahr 1974 zählt zu den spektakulärsten tarifpolitischen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Kein geringerer als Kanzler Willy Brandt hatte nämlich angesichts der Forderung nach 15 Prozent mehr Lohn und einer Einmalzahlung von mindestens 185 Mark, mit der die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in die Verhandlungen ging, eine Steigerung um mehr als 10 Prozent kategorisch ausgeschlossen. Derart in ihrem Verständnis der Tarifautonomie herausgefordert, blieb die ÖTV unnachgiebig: Als die Arbeitgeber nach einem dreitätigen Streik elf Prozent und einmalig mindestens 170 Mark akzeptierten, sprachen selbst Sozialdemokraten von einer Tragödie für Staat und Bürger. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl kommentierte das Ergebnis mit der Bemerkung, die ÖTV habe demonstriert, wer in der Bundesrepublik "eigentlich die Macht in Händen halte".

Dieser Tarifstreit nimmt verständlicherweise einen großen Raum in der exzellenten Studie des an der Universität Hamburg lehrenden Historikers ein, erschöpft sich aber nicht darin. Karl Christian Führer hat seine Geschichte der ÖTV unter dem Vorsitz Heinz Klunckers vielmehr zugleich als politische Biografie des "wohl mächtigsten" deutschen Gewerkschaftsfunktionärs und als Beitrag zur Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik angelegt. Er zeigt anschaulich, wie eine Gewerkschaft intern und in der Auseinandersetzung mit ihren Tarifpartnern, in diesem Fall den Arbeitgebern von Bund, Ländern und Gemeinden, funktioniert. Das Quellenmaterial für seine Darstellung fand er in den einschlägigen Beständen des Verdi-Archivs und des Archivs der sozialen Demokratie sowie im Bundesarchiv Koblenz.

Erwartungsgemäß "entzaubert" Führer die in den Medien vorherrschende Sicht der übermächtigen ÖTV und ihres im wahrsten Sinne "gewichtigen" Bosses. Dessen Körpergewicht von zeitweise etwa 150 Kilo bei einer Größe von 1,88 Metern widmet er einen kurzen, aber höchst interessanten Abschnitt - gründlich. Den konfrontativen Kurs der ÖTV im Frühjahr 1974 erklärt er damit, dass deren Selbstverständnis jede Art von Disziplinierungsversuch verbot, auch wenn er von einer politisch nahestehenden Regierungspartei ausging. Intern war übrigens wenig Triumphgehabe zu spüren, vielmehr war sich die Führung über den Rückhalt in der eigenen Basis keineswegs sicher, und auch das negative Medienecho machte ihr zu schaffen.

Nicht nur wegen der ausgewogenen Darstellung dieses Arbeitskampfes, sondern auch wegen der Fülle an Einblicken in das Innenleben einer Gewerkschaft ein höchst lesenswertes Buch.

Werner Bührer ist Zeithistoriker. Er lebt in München.

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