Gewaltkriminalität:Schwedens vergessene Viertel

A policeman investigates a burnt car in the Rinkeby suburb outside Stockholm

Tatort Rinkeby: Ein Polizeibeamter inspiziert zwei ausgebrannte Autos in einem Stockholmer Stadtteil.

(Foto: REUTERS)

Städte wie Malmö oder Stockholm haben ein wachsendes Gewaltproblem.

Reportage von Silke Bigalke, Malmö

An der Bushaltestelle Rosengård liegen Blumen für Ahmed Obaid. Das Foto des 16-Jährigen lehnt in Plakatgröße an der Anzeigentafel. Jemand hat Ahmed Mitte Januar erschossen, die Polizei hat noch keinen Verdächtigen. Neben dem Foto teilen sich zwei Mädchen einen Schirm, während sie auf den Bus warten.

Drei Menschen sind seit Jahresanfang in Malmö erschossen worden, mehrere wurden schwer verletzt. Einen Hausmeister traf es Anfang Februar, als er Salz auf einen Gehweg im Malmöer Zentrum streute. Er schwebt noch in Lebensgefahr. Eine 18-Jährige fand man Anfang Januar angeschossen nahe eines Falafel-Restaurants in Rosengård. Schon 2016 haben die Schießereien in Malmö zugenommen, das Jahr "war eines der schlimmsten", hatte Polizist Erik Åberg im Dezember gesagt, er ist für den Norden der Stadt zuständig. Jetzt sagt er: "2017 startet noch schlimmer."

Rosengård ist nicht das einzige Viertel, in dem es Opfer gab. Es ist einer von 15 Orten in Schweden, die die Polizei 2015 als "besonders anfällig" für Kriminalität und soziale Probleme eingestuft hat: Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, überfüllte Wohnungen. Orte wie Stockholm-Rinkeby, wo Mitte der Woche Autos brannten, oder Göteborg-Biskopsgården, wo im Sommer ein Achtjähriger starb, weil jemand eine Handgranate durchs Fenster in das Zimmer warf, in dem er schlief. Er wurde vermutlich Opfer einer Fehde unter Kriminellen.

Die Polizei wehrt sich gegen den Begriff "No-Go-Zonen". Den hatte vor einer Woche auch der amerikanische TV-Sender Fox News in einem Bericht benutzt, der Reporter sprach von einer "absoluten Welle an Waffengewalt und Vergewaltigungen", ausgelöst durch Schwedens Flüchtlingspolitik. Dann bezog sich US-Präsident Donald Trump darauf: "Schaut euch an, was gestern Abend in Schweden passiert ist." Er hatte wohl etwas durcheinander geworfen. Schon der Fox-Bericht enthielt Fehler.

Der schwedische Rat für Verbrechensvorbeugung hat knapp 12 000 Menschen befragt, ob sie 2015 Opfer eines Verbrechens geworden seien. Ergebnis: Die Kriminalitätsrate lag 2015 etwas höher als im Vorjahr - aber etwa auf demselben Level wie 2005, lange vor Beginn der Flüchtlingskrise 2014. Richtig ist, dass Schweden ein wachsendes Problem mit Waffengewalt hat.

Es geht dabei um Fehden unter Kriminellen, Drogengeschäfte, illegale Waffen. 2011 bis 2015 gab es 948 Schießereien in Stockholm, Göteborg und Malmö, mit 355 Verletzten und 71 Toten. Zahlen aus einem Artikel in Dagens Nyheter, in dem fünf Forscher und Kriminologen bereits im November vor der wachsenden Gewalt warnen.

"Machtvakuum" zwischen Kriminellen

"Schweden sticht hervor in Nordwest-Europa", sagt Manne Gerell, Experte für Kriminalität an der Hochschule Malmö. Die Schießereien seien ein großes, aber spezifisches Problem. In Malmö, so beschreiben es auch Polizei und Politiker, sind die Kriminellen nicht in Banden, sondern eher lose organisiert.

Derzeit herrsche eine Art "Machtvakuum", weil führende Gangster verhaftet oder getötet wurden. Das könnte zur Gewalt beitragen, sagt Manne Gerell. Eine ähnliche Welle gab es schon vor fünf Jahren. Nun gibt es Schießereien in der gesamten Stadt. "Aber das meiste passiert in den ärmeren Vierteln", sagt der Experte.

In diesen "ärmeren Vierteln" zeigt sich das zweite große Problem: Schweden hat Hilfesuchende zwar mit offenen Armen ins Land gelassen, aber oft versäumt, sie auch in die Gesellschaft aufzunehmen. Die Neuankömmlinge sind in die Viertel gezogen, in denen sie Verwandte und Landsleute hatten, in denen sie sich die Mieten leisten konnten.

Reiche Kriminelle lassen Jugendliche Drogen verkaufen

Jan Edling hat 2015 eine Studie über 38 Viertel in Schweden veröffentlicht: "Die Vororte, die Mutter Svea vergaß". Er hat einfach Zahlen gegenübergestellt: 21,5 Prozent aller Menschen, die in Schweden leben, sind im Ausland geboren oder Kind ausländischer Eltern. In den 38 "vergessenen" Orten liegt dieser Anteil im Schnitt bei 72,8 Prozent.

Arbeitslosenquote: 8,2 Prozent in ganz Schweden, 17,9 Prozent in Edlings Vierteln. Der Anteil der Schüler, die es nicht über die 9. Klasse hinaus schaffen: doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Höhere Abhängigkeit von Sozialhilfe, geringe Wahlbeteiligung, mehr Kriminalität - all das zeichnet die vergessenen Viertel aus. Es ist eine Erklärung für den Frust der Jugendlichen, die Autos anzünden. "Und dann bekommen diese Kinder Angebote, die sehr attraktiv sein können für jemanden, der denkt, er habe keine Chance im Leben", sagt Jan Edling.

In Rosengård hat sich die Stadt bemüht, vieles zu verbessern. Rosengård liegt recht zentral, ein großer Wohnbaukomplex reiht sich an den anderen. Dazwischen gibt es Grünflächen, Sportplätze, Kitas. In Herrgården, einem besonders berüchtigten Teil Rosengårds, hat die Stadt den Park umgestaltet, damit sich die Menschen sicherer fühlen - sie hat Büsche weggenommen, einen Hügel abgetragen. In das Gebäude dahinter ist ein Bürgerbüro gezogen. Feuerwehr und Polizei machen Hausbesuche, um mit Müttern über deren Sorgen sprechen.

In Rosengård brennen nun weniger Autos als zuvor. Die Stadt hat Patrouillen eingesetzt, Områdesvärdar. Sie sprechen mit den Bewohnern, helfen den Jugendlichen auch mal mit Bewerbungen. Vieles sei besser geworden, hat ein Områdesvärd gesagt, bevor die Schießerei losging. Aber klar gebe es immer noch Probleme mit Drogen und Waffen, kämen reiche Kriminelle mit "dicken Autos" und ließen die Jugendlichen ihre Drogen verkaufen.

"Jeder hier will ein Zlatan sein"

Mitten in Rosengård steht ein Kulturzentrum für Kinder, im Nebengebäude hat der FC Rosengård seine Zentrale. Drinnen hängen die Wände voll mit Wimpeln und Mannschaftsfotos, auch eins von Zlatan Ibrahimović. Der Fußballstar hat als Junge hier trainiert. Ivica Kurtovic erinnert sich gut an ihn. "Jeder will hier ein Zlatan sein", sagt der frühere Trainer. Im Klub ist er für die Entwicklung von Spielern und Trainern zuständig. Er hat lange in Rosengård gelebt und ist auch später nie richtig weggekommen.

1967 kam Ivica Kurtovic mit seinen Eltern nach Schweden. Damals sei Rosengård eine Zukunftsstadt gewesen, mit modernen Apartments. Die Menschen kamen aus den früheren Balkanstaaten, aus Rumänien, Jugoslawien, Griechenland, auch aus Italien, um in Malmö zu arbeiten. "In den vergangenen zehn, 20 Jahren hat sich wirklich etwas verändert."

Ahmed Obaid, der im Januar erschossen wurde, hat früher auch mal beim FC Rosengård gespielt. Nicht nur im Klub gibt es viele Theorien über das Geschehen. Der Junge war nicht in kriminelle Machenschaften verwickelt, sagt auch die Polizei. Ist er verwechselt worden? War er mit dem falschen Mädchen zusammen? Auch der verletzte Hausmeister war offenbar "völlig unschuldig", sagt Polizist Åberg. Er habe das Gefühl, dass die Hemmschwelle der Gewalttäter auch untereinander sinke. "Es kann sogar ausreichen, dass einer die Freundin des anderen beleidigt."

Fußballer Ivica Kurtovic schimpft auf die Politiker, die laschen Gesetze. Waffen könne man in Malmö "wirklich preiswert" und "fast überall" bekommen. Ivica Kurtovic hat Rosengård stets verteidigt. Auch jetzt sagt er, dass es eine kleine Gruppe sei, die für Ärger sorge. "Sie kommen in eine Demokratie, und das bedeutet für sie: Ich kann machen, was ich will."

Die Polizei in Malmö führt eine Liste mit 200 Namen, die "kriminellsten Individuen der Stadt", sagt Polizist Erik Åberg. Diese 200 Täter hätten gemeinsam etwa 1700 Verurteilungen gesammelt, wegen Waffenbesitzes, Drogenverkauf, Gewaltverbrechen. "Trotzdem sind einige von ihnen noch auf den Straßen." Justizminister Anders Ygeman hat Malmö im Februar besucht, er hat Verbesserungen versprochen, Überwachungskameras und "klügere Strafen" zum Beispiel.

Der Bus ins Zentrum fährt wieder an der Haltestelle mit den Blumen vorbei. An einem Wohnhaus in der Nähe steht in pinker Leuchtschrift: "Home is where the heart is." Zuhause ist, wo das Herz ist. Statt der Worte sind ein Haus und ein Herz eingesetzt.

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