Gewalterfahrungen von Polizeibeamten:Das totgeschwiegene Trauma

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"Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen": Polizisten werden häufig Opfer von Gewalt, mit den Folgen müssen sie aber alleine fertig werden. Verletzlichkeit passt nicht ins Berufsbild.

Sebastian Beck

Wenn Steffen Brauner über die Abendstunden des 1. Mai 2007 spricht, dann beginnt sein Körper leicht zu zittern. Ein kaum merkliches Beben erfasst die Stimme, und in seinen Augen steht Furcht. "Kreuzberg feiert friedlich", titelte die Berliner taz am 2. Mai 2007 voreilig. Von Brauner ist in dem Artikel nicht die Rede, auch nicht eine Woche später, als Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch die Bilanz der üblichen Krawalle zog: 233 Festnahmen und 105 verletzte Polizisten.

Trotzdem sei der 1.Mai 2007 vergleichsweise glimpflich verlaufen, so lautete jedenfalls die einhellige Einschätzung der Berliner Politik und Medien. Die Ausschreitungen hätten sich auf ein "einstündiges Scharmützel" beschränkt, sagte Volker Ratzmann, der Fraktionschef der Grünen im Abgeordnetenhaus. Er hatte lediglich zu bemängeln, dass die Polizei auf der Suche nach Steinewerfern mit wenig Rücksicht vorgegangen sei.

Es war dieses Scharmützel, an dessen Folgen Oberkommissar Steffen Brauner immer noch leidet. Nachts schlägt er im Bett um sich. Er träumt, dass er auf der Flucht ist oder in einem Käfig sitzt, gefangen wie eine Ratte. "Das ist das Bild, das ich heute noch vor Augen habe", sagt Brauner. Sein Fall ist in der Statistik untergegangen, es gibt weder einen Täter noch Ermittlungen. Er wurde noch nicht einmal offiziell dazu befragt, was ihm am 1.Mai in der Toreinfahrt zugestoßen ist.

Es ist der ganz alltägliche Dienstunfall eines deutschen Polizeibeamten aus Berlin Rudow, Abschnitt 56. Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat in zehn Bundesländern 1000 solcher Berichte gesammelt, dazu noch 21.000 Fragebogen, die von Polizisten im Internet ausgefüllt wurden. Bis Anfang kommenden Jahres soll daraus eine Studie erstellt und der Innenministerkonferenz der Länder vorgelegt werden. Noch nie zuvor sind Gewalterfahrungen von Polizeibeamten so umfangreich untersucht worden.

Institutsleiter Christian Pfeiffer und seine Mitarbeiter haben die Auswertung der Ergebnisse zwar noch nicht abgeschlossen, doch einige Befunde stehen bereits fest: Fast die Hälfte der Befragten ist demnach im Jahr 2009 nicht nur beschimpft, sondern auch körperlichen Attacken ausgesetzt worden - vom Rempler bis hin zum gezielten Schuss. Besonders gefährlich ist nicht nur der Einsatz bei Demonstrationen, sondern auch die Schlichtung von Streitereien in Familien. "Vor allem in Berlin gibt es für Polizisten ein atypisch hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden", sagt Pfeiffer. "Weil Konzepte zur Befriedung fehlen, muss die Polizei die wachsenden sozialen Spannungen ausbaden."

Brauner hatte an jenem 1.Mai schon von Anfang an ein mulmiges Gefühl, als er auf dem "Myfest" eine Bühne bewachen musste - ungeschützt, in beige-grüner Uniform. Und das, obwohl die Kreuzberger Krawalle dort ihren Ausgang nehmen. Aber die Berliner Polizei wollte sich friedfertig geben: "Konzept der ausgestreckten Hand" heißt diese Strategie.

Es kam, wie es Brauner befürchtet hatte: Nach Einbruch der Dunkelheit schlug die Stimmung ins Feindselige um. Er und sechs Kollegen schlossen sich zusammen, um sich als Gruppe besser zu schützen - und liefen geradewegs einem Block von 200 Autonomen in die Arme. "Eine Sekunde lang standen wir uns nur gegenüber", erinnert sich Brauner. "Dann kamen schon die Schreie: Das sind Drecksbullen! Die Scheißnazis!"

Es folgte eine Hetzjagd durch die Straßen von Kreuzberg. Sie endete in einer Tordurchfahrt. Im Innenhof stand eine Hundertschaft - "die richtige Polizei", wie Brauner es nennt -, doch das Gitter an der Rückseite war abgesperrt. Brauner und seine Kollegen saßen in der Falle. Was dann geschah, konnte er selbst seiner Frau bisher nur bruchstückhaft erzählen. Er umschreibt es so: "Sie haben uns plattgemacht. Wir wurden regelrecht gesteinigt."

Der Mob bewarf die Polizisten aus nur fünf Metern Entfernung mit Pflastersteinen, Flaschen und Knallkörpern. Minutenlang. Brauner weiß nur noch, dass er zusammengesunken in der Ecke kniete. "Ich war völlig verloren in meiner Situation und hatte mit dem Leben abgeschlossen." Jemand öffnete schließlich das Gitter und zog ihn in den Hof hinein. Wie die anderen Kollegen hatte Brauner Prellungen und Blutergüsse am ganzen Körper.

Ein Jahr noch schleppte er sich zum Dienst. Weil er nachts nicht mehr schlafen konnte, setzte er sich bis in die Morgenstunden vor den Fernseher. Als er vor dem 1.Mai 2008 erfuhr, dass das so erfolgreiche Konzept der ausgestreckten Hand auch in diesem Jahr verfolgt werde, musste er sich übergeben. Er brach körperlich und seelisch zusammen.

Es grenzt an ein Wunder, dass er seine Geschichte überhaupt erzählen darf. Brauner musste sich dafür beim Berliner Polizeipräsidenten eine Genehmigung einholen. Der Polizist als Opfer von Gewalt, das passt nicht ins Rollenverständnis, und auch in der Öffentlichkeit werden Übergriffe etwa auf Fußballfans oder Demonstranten aufmerksamer registriert als die Schikanen, denen Beamte ausgesetzt sind: So widmet Amnesty International der "Polizeigewalt" in seinem aktuellen Magazin eine Titelgeschichte; die Opfer in den Reihen der Polizei werden indes ausgeblendet.

Pfeiffer sagt, es laste Druck auf Polizisten, sich unbeeinträchtigt zu zeigen und männliche Härte auszustrahlen. "Wer das nicht aushält, der läuft Verdacht, dass er ein Weichei ist." Beamte, die im Dienst schwer verletzt wurden, berichteten den Wissenschaftlern aus Hannover, wie sehr sie darunter gelitten hätten, dass sie im Krankenhaus keinen Besuch von Kollegen bekommen hätten. Pfeiffer hat eine einfache Erklärung dafür: Das eigene Leid und das der anderen werde einfach verdrängt. Viele Beamte laufen nach seiner Beobachtung mit einem "emotionalen Panzer" durch die Gegend.

"Es ist doch der Wahnsinn, wenn keiner darüber sprechen will", sagt Anna Möhlenhof. Die 25-Jährige, die sich selbst als robuste Frau beschreibt, macht seit 2006 in der Bremer Neustadt Streifendienst. Zur Polizei sei sie deshalb gegangen, weil sie anderen habe helfen wollen. Ihr Idealismus hat im Berufsalltag mittlerweile Schrammen bekommen. Der Ärger fängt schon bei banalen Ausweiskontrollen an: "Du hast mir gar nichts zu sagen", muss sich sie sich vor allem von Einwanderern immer wieder anhören. Selbst wenn die Polizei bei Streitigkeiten eingreife, sei sie unerwünscht: "Die Leute wollen uns nicht", wundert sich Möhlenhof. "Die möchten das untereinander klären."

In der Silvesternacht wurde sie mit einem Kollegen zu einer Schlägerei gerufen. Nachdem sie den Täter - er war selbst verletzt und blutüberströmt - festgenommen hatten, drehte er sich um und schlug ihr ins Gesicht, "und zwar volle Kanne". Das hat Möhlenhof längst weggesteckt, auch die Beschimpfungen als "Nutte, Hure und Schlampe" gingen ihr nach eigenem Bekunden nicht wirklich nahe.

Doch dann spuckte der Mann ihr auf dem Rücksitz des Streifenwagens voller Verachtung eine Mischung aus Blut und Schleim ins Gesicht. "Daran habe ich lange zu knacken gehabt", gesteht sie. Zuletzt musste sie im Juni zum Bluttest. Der Täter, wegen Drogendelikten vorbestraft, war möglicherweise mit HIV infiziert. Dabei kann sie noch froh sein, dass sie nicht gebissen wurde. Drogenabhängige setzen ihre Zähne bei Festnahmen häufig als Waffe ein. Über ihr Erlebnis aus der Neujahrsnacht sagt Möhlenhof, es sei "vielleicht nichts Großes" gewesen, aber leider passiere so etwas ständig.

Ihr Kollege Brauner ist mittlerweile wieder eingeschränkt arbeitsfähig, mehr als drei Jahre nach dem Überfall in der Toreinfahrt. Eine Kollegin, die damals einen Stein ins Gesicht bekommen hatte, quittierte den Dienst. Ein anderer hat sich inzwischen einer psychotherapeutischen Behandlung unterzogen. Brauner bearbeitet jetzt Ladendiebstähle und Einbrüche, darf keine Waffe mehr tragen, keinen Funkwagen mehr fahren. Nach seinem Zusammenbruch 2008 wurde er erst zum Chirurgen und zum Taucherarzt geschickt - und schließlich zum Psychiater. Der diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung.

Als Brauner nach Monaten wieder auf der Dienststelle erschien, begrüßte ihn sein damaliger Vorgesetzter mit den Worten, er werde ihm jetzt mal zeigen, was arbeiten heiße. Auch jetzt noch müsse er sich ständig dafür rechtfertigen, dass er nicht mit dem Wagen auf Streife rausfahren könne, wo er doch ein groß gewachsener, sportlicher Typ ist. Was soll so einem schon fehlen? "Es wäre besser gewesen, ich hätte mir den Arm gebrochen. Meine Karriere bei der Polizei ist beendet."

Der Kriminologe Pfeiffer fordert, dass die Polizisten in ihrer Ausbildung schon von Anfang an besser auf den Umgang mit Gewalt vorbereitet werden, und zwar nicht nur mittels Schießtraining und Nahkampfübungen. Er verweist auf Studien, wonach Menschen, die in ihrer Kindheit selbst Opfer von familiärer Gewalt wurden, später ein dreimal so hohes Risiko haben, erneut Gewalt zum Opfer zu fallen. Dies hänge möglicherweise mit ihrem Verhalten in Konfliktsituationen zusammen, glaubt er.

Ob das auch für Polizeibeamte gilt, hätte Pfeiffer in seiner Studie gerne untersucht. Doch die Gewerkschaft DPolG habe sich gesperrt gegen Fragen nach dem familiären Umfeld von Beamten und den Symptomen eines Burn-out-Syndroms. Aus Opfern dürften keinesfalls Täter gemacht werden, lautete das Argument der Gewerkschafter - ein krasses Missverständnis, wie Pfeiffer findet: Es gehe doch lediglich darum, Strategien zum Umgang mit Gewalterlebnissen zu finden.

Oberkommissar Brauner macht jetzt im Berliner Bundeswehrkrankenhaus eine spezielle Traumatherapie durch, die sonst Kriegsheimkehrer erhalten. Einmal hat er eine Liste aufgestellt mit all den schrecklichen Erlebnissen aus 25Dienstjahren. Es verging kaum eine Woche ohne den Anblick von Toten und Verletzten. Das sei womöglich zu viel gewesen für ihn, sagt er. Gut 20 Stunden Therapie hat Brauner schon hinter sich, 80 Stunden könnten es am Ende werden, bis er den Schrecken verarbeitet hat. Noch ist er nicht so weit: Wenn nur eine Kastanie aufs Autodach fällt, zuckt er zusammen.

Die Steinewerfer konnten unerkannt entkommen. Es hat sich auch niemand die Mühe gemacht, nach ihnen zu suchen. Ein Polizist sei in Berlin nichts mehr wert, glaubt Brauner.

Seine Bremer Kollegin Möhlenhof hat sich vorgenommen, künftig noch vorsichtiger zu sein. So nebenbei erzählt sie noch von einem Einsatz vor ein paar Tagen. Ein Busfahrer war zusammengeschlagen worden. Der Täter sprang einem der herbeigerufenen Polizisten mit den Beinen in den Rücken. "Der ist am nächsten Morgen wieder zum Dienst erschienen", sagt Möhlenhof. "Wir stecken das alles gut weg."

© SZ vom 03.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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