SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 9:Vier pro Tag

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(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Geflüchtete sind oft Ziel von Attacken - vor allem in Ostdeutschland. Konfliktforscher versuchen zu erklären, woran das liegt.

Von Helena Ott

29. August, Wismar (Mecklenburg-Vorpommern): In einem Park brechen drei Täter einem 20-jährigen Syrer das Nasenbein und schlagen mit einer Eisenkette auf seinen Oberkörper ein. 1. September, Essen (Nordrhein-Westfalen): Zwei Männer verprügeln ein Mitglied des Integrationsrates und seinen Begleiter, einen Geflüchteten aus Afghanistan. 5. September, Wegeleben (Sachsen-Anhalt): Ein 20-Jähriger schlägt einem syrischen Schüler in einer Regionalbahn eine Bierflasche auf den Kopf. 23. September, München (Bayern): In einer S-Bahn schlägt ein Mann auf zwei Frauen aus Somalia und Äthiopien ein. Er tritt nach ihnen, beleidigt sie und würgt eine der beiden.

Solche Angriffe bleiben meist Randnotizen in lokalen Medien. Es braucht dramatische Bilder - brennende Asylunterkünfte wie 1992 in Rostock-Lichtenhagen oder Videos von Angriffen wie in Heidenau, Freital oder Clausnitz 2015 und 2016 -, damit die Öffentlichkeit aufmerksam wird. 2018 geschah dies nach den Hitlergrüßen und rassistischen Attacken in Chemnitz. Dabei sind Übergriffe auf Flüchtlinge deutscher Alltag: Im ersten Halbjahr wurden 704 Angriffe auf Geflüchtete und Unterkünfte gezählt, etwa vier pro Tag.

"Chemnitz war der Versuch, ein Fanal zu setzen"

Nach dem 26. August, als die fremdenfeindlichen Demos und Aktionen in Chemnitz begannen, warnte der Verband der Opferberatungsstellen für rechte Gewalt (VBRG) vor einem "besorgniserregenden Anstieg" rassistischer Straftaten bundesweit. 93 Angriffe und Bedrohungen hat der Verband allein in den vier Wochen nach Chemnitz gezählt. "Leider beobachten wir auch, dass die Attacken seitdem brutaler werden, es häufiger zu roher Gewalt kommt", sagt Andrea Hübler vom Vorstand des VBRG.

Die Opfer, die zu ihr kommen, litten häufig unter Schlaf- oder Essstörungen bis hin zu Panikattacken mit Atemnot. "Für Geflüchtete sind solche Angriffe schwerer zu verarbeiten; die meisten sind alleine hier, haben keine Familie oder keinen Freundeskreis, der sie stabilisieren kann", sagt Hübler. Zudem sei die Gefahr hoch, dass Traumata aus der Heimat oder von der Flucht aufbrechen.

Einen "sprunghaften" Anstieg rassistischer Übergriffe registrierte auch die Amadeu-Antonio-Stiftung. Sprecher Robert Lüdecke sorgt sich, weil die rechte Szene derzeit wenig Konsequenzen befürchte. "Chemnitz war der Versuch, ein Fanal zu setzen. Der zurückhaltende, verharmlosende Umgang der sächsischen Landesregierung und der Sicherheitsbehörden war ein fatales Signal in die Szene."

Dass die häufigeren Angriffe eine Reaktion auf die rechtsextreme Hetze in Chemnitz sind, befürchtet auch Konfliktforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld: Die Anschlagsgefahr von rechts sei "stark gestiegen, weil sich einzelne Neonazikader jetzt wieder als gemeinsame Bewegung verstehen". Die Ereignisse in Chemnitz hätten rechte Gruppen im Bundesgebiet motiviert, nach dem Motto: Wir können jetzt nicht mehr rumlabern, wir müssen endlich auch handeln.

  • Merkel hat vor drei Jahren gesagt: "Wir schaffen das!" Was ist aus den Flüchtlingen geworden, die seit 2015 geblieben sind? In der Serie "Schaffen wir das?" gibt die SZ jede Woche Antworten.

Integration in Deutschland

Dieser Text ist Teil der SZ-Integrationsserie "Schaffen wir das?". Alle Folgen der Serie finden Sie hier.

Aus ihrer Sicht zeigen Gesinnungsgenossen "erfolgreich Widerstand", sagt Zick. "Signalereignisse wie in Chemnitz setzen Bremsfaktoren herab, die Menschen mit rechter Ideologie davon abhalten, jemanden anzugreifen." Nachahmungstaten stellten Forscher auch nach den Krawallen vor 26 Jahren in Rostock fest.

Es brennt wieder. 1047 Asylunterkünfte wurden laut Bundesinnenministerium im Jahr 2015 angegriffen, es gab Brandstiftungen, Sachbeschädigungen, Beleidigungen. In den Folgejahren gingen die Straftaten zwar stetig zurück.

Doch auch diese Entwicklung ist für Robert Lüdecke kein Grund anzunehmen, dass die Gewaltbereitschaft in der rechten Szene gesunken sei. Vielmehr seien Geflüchtete seit 2016 häufiger dezentral, also in Mehrfamilienhäusern, untergebracht. Einzelne Wohnungen seien nicht so leicht ausfindig zu machen wie Heime und hätten als Ziel von Angriffen eine geringere Symbolwirkung.

30 Seiten lang ist die Delikte-Liste für das erste Halbjahr 2018

30 Seiten lang ist die Liste der Delikte in der Statistik des Bundesinnenministeriums zu Straftaten gegen Geflüchtete für das erste Halbjahr 2018. Sortiert man alle Körperverletzungen nach Bundesländern, wird ein deutlicher Ost-West-Unterschied sichtbar. 112 von 140 Gewalttaten, also 80 Prozent, wurden in den fünf östlichen Bundesländern begangen, obwohl dort nur ein Sechstel der Bevölkerung lebt. Ähnlich im Vorjahr, da wurden von 192 Übergriffen 136 im Osten verübt.

Konfliktforscher Zick erklärt diese Differenz vor allem damit, dass Ängste, die Pegida und AfD schüren, im Osten mehr verfingen: "Da merkt man den Einfluss von populistischer Propaganda, welche den Bürgern im Osten immer wieder einpeitscht, dass sie Bürger zweiter Klasse wären und die Flüchtlinge ihnen zusätzlich etwas wegnähmen." Diese Angst sei auch deshalb stärker als im Westen, weil im Osten die langjährige Erfahrung mit Zuwanderung fehle.

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