Gewalt in Syrien:Berichte über Tote schüren Zweifel an Waffenruhe

Brüchige Waffenruhe: Wenige Stunden nach Ablauf der Frist meldet die Opposition die ersten Toten. Noch immer sind die Panzer und Scharfschützen des Regimes in den Rebellenhochburgen positioniert, Aktivisten berichten von Truppenbewegungen. Insgesamt beschreiben sie die Situation trotzdem als ruhig.

In Syrien sind offenbar trotz der Waffenruhe drei Menschen von Sicherheitskräften getötet worden. Das berichtete der Nachrichtensender Al-Dschasira am Donnerstag unter Berufung auf Oppositionelle. Die Vorfälle hätten sich in den Provinzen Idlib und Hama ereignet. Wegen der Medienblockade sind Meldungen aus Syrien von unabhängiger Seite nur schwer zu überprüfen.

Gewalt in Syrien: Das Standbild aus einem Amateurvideo soll einen Panzer der syrischen Armee nach dem Einsetzen der Waffenruhe in Idlib zeigen.

Das Standbild aus einem Amateurvideo soll einen Panzer der syrischen Armee nach dem Einsetzen der Waffenruhe in Idlib zeigen.

(Foto: AP)

Nach Angaben der syrischen Menschenrechtsbeobachter in London wurde eine Person im Umland der Stadt Hama erschossen. Zwei weitere seien in der Provinz Deir as-Saur ums Leben gekommen, als Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffnet hätten. Anderslautenden Berichten zufolge wurde ein Zivilist getötet, der sich geweigert habe, an einem Kontrollposten in der Provinz Hama anzuhalten.

Unterdessen berichtet das syrische Staatsfernsehen von einer "terroristischen Attacke", bei der ein Offizier getötet und 24 weitere Menschen verletzt worden seien. Die syrische Regierung hatte sich bei ihrer Zustimmung zum Friedensplan im Fall von Angriffen das Recht auf "angemessene Reaktionen" vorbehalten.

Am Morgen war die von UN-Vermittler Kofi Annan ausgehandelte Feuerpause in Kraft getreten. Regierungsgegner berichteten, es habe seit dem frühen Morgen keine schweren Gefechte mehr gegeben. "Die Situation ist weiterhin ruhig in allen Regionen", sagte der Leiter der in London ansässigen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Kurz vor Ablauf der Frist hatte es noch heftige Auseinandersetzungen gegeben. Präsident Baschar al-Assad ließ viele Ortschaften bis zum Beginn der Waffenruhe beschießen. "Es war eine blutige Nacht. Homs lag unter schwerem Beschuss", sagte ein Oppositioneller mit dem Decknamen Abu Rami.

Auch nach dem Inkrafttreten der von den Vereinten Nationen ausgehandelten Waffenruhe um sechs Uhr Ortszeit (fünf Uhr MESZ) wurden noch Explosionen gemeldet, unter anderem in der Region Sabadani, etwa 30 Kilometer von Damaskus entfernt. Aktivisten berichteten über vereinzelte bewaffnete Zusammenstöße. Vor allem in der Hauptstadt Damaskus seien noch Schüsse zu hören gewesen. In einem Vorort sei ein Auto explodiert, Verletzte habe es bei der Detonation nicht gegeben.

Auch die Razzien gegen mutmaßliche Regimegegner werden offenbar fortgesetzt. "Es gab heute an verschiedenen Orten wieder Festnahmen", sagte der Kommandeur der Freien Syrischen Armee, Riad al-Asaad. Die Deserteure hatten angekündigt, sie wollten sich ebenfalls an die Waffenruhe halten, falls die Truppen von Präsident Baschar al-Assad ihre Angriffe einstellen sollten.

Insgesamt beschreiben die Aktivisten die Situation trotz einzelner bewaffneter Auseinandersetzungen als ruhig. Auch in Unruhegebieten wie Hama und Homs in Zentralsyrien und in der Region Idlib im Norden gebe es keine Gefechte mehr.

Skepsis gegenüber der Waffenruhe

Doch die Opposition und ihre Unterstützer im Westen sind skeptisch gegenüber der Redlichkeit Assads. Anlass zum Zweifel geben dabei nicht nur die vielen Wortbrüche des syrischen Präsidenten in der Vergangenheit. Assad hatte bereits mehrmals angekündigt, die Waffen ruhen zu lassen, ohne dass seinen Worten Taten gefolgt waren.

Die Skepsis der Regimegegner wird auch durch die nach wie vor in den Hochburgen der Opposition präsenten Truppen bestärkt. Hinweise auf einen Rückzug der Armee aus den Städten gibt es nach Angaben von Aktivisten nicht. Nach wie vor sind Panzer, Geschütze und Scharfschützen des Regimes in den zuvor umkämpften Regionen positioniert. Regimegegner beobachteten dort Truppenbewegungen. Gemäß des Friedensplans müssten sich die Soldaten jedoch in ihre Kasernen zurückziehen.

Syrische Aktivisten riefen über ihre Netzwerke dazu auf, Panzer und Geschütze, die noch in Städten und Dörfern stehen, zu fotografieren. Sie erklärten, in Ermangelung internationaler Beobachter sei dies der einzige Weg, um Verstöße gegen die Prinzipien des Friedensplans zu dokumentieren.

Die nach den Freitagsgebeten üblichen Proteste der Bevölkerung gegen die Regierung werden nach Einschätzung eines führenden Oppositionellen morgen zur ersten Bewährungsprobe für die geltende Waffenruhe. Das syrische Volk werde auf die Straße gehen, und es werde die größtmögliche Demonstration sein, in der die Syrer ihre Meinung zum Ausdruck bringen können, sagte der Chef der größten Oppositionsgruppe des Landes, Burhan Ghaliun, der Nachrichtenagenur Reuters. "Wir werden sehen, ob die Regierung ihr Versprechen hält."

Zwar seien die Menschen von der Opposition aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen, sagte er. "Wir rufen aber zugleich zu Vorsicht auf, denn das Regime wird die Waffenruhe nicht einhalten und wird schießen", sagte Ghaliun.

Sechs Schritte zur Befriedung Syriens

Die Waffenruhe ist Teil eines Friedensplans, den der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan am 10. März in Damaskus vorgelegt hatte. Baschar al-Assad hatte dem Plan nach Angaben Annans zugestimmt, das Regime hatte sich jedoch das Recht vorbehalten, auf Angriffe von "bewaffneten Terroristengruppen" zu reagieren.

A general view of Damascus city during sunrise

Damaskus in den frühen Morgenstunden nach dem Inkrafttreten der Waffenruhe. Nur noch vereinzelt sind Schüsse zu hören, ansonsten bleibt die Situation im ganzen Land ruhig.

(Foto: REUTERS)

Der Plan sieht folgende Schritte vor:

1. Die Zusammenarbeit aller Beteiligten beim politischen Prozess.

2. Einen von den UN beobachteten Waffenstillstand. Dieser soll nach dem geordneten Rückzug der syrischen Truppen aus den städtischen Kampfzonen in Kraft treten.

3. Den ungehinderten Zugang von humanitären Organisationen in die von Kämpfen betroffenen Gebiete.

4. Die Freilassung politischer Gefangener.

5. Bewegungsfreiheit für Journalisten im ganzen Land.

6. Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in Syrien.

Sollte die Waffenruhe eingehalten werden, wollen die Vereinten Nationen zunächst internationale Beobachter zur Überwachung entsenden. Daraufhin sollen erste Gespräche zwischen der Regierung des Staatspräsidenten Assad und der Opposition stattfinden, um einen politischen Übergang auszuhandeln.

Türkei sieht Nato in der Pflicht

Im Falle eines erneuten Grenzverstoßes durch syrische Truppen könnte dagegen die Türkei um Unterstützung der Nato ersuchen. "Die Nato trägt nach Artikel 5 die Verantwortung zum Schutz der türkischen Grenze", sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochabend unter Verweis auf den Nato-Vertrag. Darin heißt es, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein Nato-Mitglied als ein Angriff gegen alle Bündnismitglieder betrachtet wird. Syrische Regierungstruppen hatten am Montag über die Grenze hinweg das Feuer eröffnet und zwei Menschen in einem türkischen Flüchtlingslager getötet.

"Wir sind tief besorgt über die Ereignisse in Syrien, besonders über die kürzlichen Vorfälle an der Grenze mit unserem Verbündeten Türkei", sagte eine Nato-Sprecherin der Nachrichtenagentur AFP. "Wir nehmen unsere Verantwortung zum Schutz der Nato-Partner sehr ernst."

Im Vorfeld hatten insbesondere die USA Bedenken geäußert, ob Syrien die Frist einhalten werde. Es habe schon zu oft Lippenbekenntnisse Assads zu einem Gewaltverzicht gegeben, nun müssten Taten folgen, sagte US-Außenministerin Hillary Clinton. Es sei alarmierend, dass die Gewalt trotz der Bemühungen Annans nicht schon beendet worden sei. Die US-Regierung werde sich mit ihren Verbündeten über zusätzliche Maßnahmen gegen Syrien beraten, sollte die Waffenruhe nicht eingehalten werden, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney.

Auch westliche Politiker halten die Waffenruhe für trügerisch. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich ebenso wie US-Präsident Barack Obama besorgt, dass sich die syrische Regierung nicht an die vom UN-Sondergesandten Kofi Annan ausgehandelte Übereinkunft zur Beilegung des Konflikts hält.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: