Gewalt in der Gesellschaft:Die Leiden der Jugendrichterin Kirsten Heisig

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Wohin driftet die Gesellschaft? Wenige Wochen nach dem Tod der bekannten Richterin Kirsten Heisig erscheint ihr Buch über junge Gewalttäter - und ist sofort ausverkauft. Es ist eine erschreckende Bilanz.

Sarina Pfauth

Sie machte sich Vorwürfe wegen John. Weil sie, wie die anderen, nicht konsequent handelte. Weil sie nicht darauf bestand, dass der 19-jährige seine stationäre Alkohol- und Drogentherapie durchzieht, nachdem er zweimal hintereinander Passanten brutal zusammengeschlagen hatte. "Das wäre aber notwendig und richtig gewesen: einmal bei einer Linie zu bleiben."

"Man sollte mehr Hand in Hand agieren": Ein Bild der Jugendrichterin Kirsten Heisig, aufgenommen in ihrem Büro im Amtsgericht Tiergarten in Berlin. (Foto: ddp)

John sei immer irgendwie durchgereicht worden - von der Mutter ins Heim, von Heim zu Heim, von Schule zu Schule. Die einzige Konstante in seinem Leben waren Abbrüche aller Art. Das Resultat: früh angelegte Drogenkarriere, kein Schulabschluss, Abgleiten in die Obdachlosigkeit, kriminelles Verhalten, massive Gewalttätigkeit. Am Ende stand staatlicher Gewahrsam.

"Letztendlich werden die tatsächlichen Probleme nicht erkannt, und falls doch, nicht kontinuierlich bekämpft". Sie schreibt diesen Satz über John - er steht für alle anderen Beispiele in ihrem Buch.

Kirsten Heisig, die langjährige Jugendrichterin in Berlin, geht in ihrem Buch Das Ende der Geduld hart ins Gericht - mit Eltern, Behörden, Polizei, Schulen, Justiz und auch mit sich selbst. Man kann und muss diese Streitschrift für einen konsequenteren Umgang mit jugendlichen Straftätern als ihr Vermächtnis verstehen. Die engagierte, deutschlandweit bekannte Juristin nahm sich das Leben, wenige Tage oder sogar Stunden, nachdem sie das Manuskript für das Buch freigegeben hatte.

Nach ihrem Tod entschloss sich der Verlag, die Veröffentlichung vorzuziehen - das Buch kam am 26. Juli in den Handel - und war, Verlagsangaben zufolge, gleich am ersten Tag ausverkauft. Die Startauflage von 40 000 Exemplaren sei am Montag bereits vergriffen gewesen, sagte Verlagssprecherin Christine Weis: "Es gibt offensichtlich ein sehr großes Interesse an dem Thema. Wir müssen sofort nachdrucken."

Es gab nach dem Tod der Mutter von zwei Töchtern, die 48 Jahre alt wurde, in der Presse viele Porträts über die Berlinerin. Am besten aber gibt ihr Buch Auskunft über die Streiterin für Recht und Jugend.

Kirsten Heisig hat in ihrem Leben viel getan und viel geredet, um Jugendlichen im Kampf gegen kriminelle Karrieren zu helfen. Sie hat viele Erfolge gefeiert, aber angesichts der schier erdrückenden Defizite, die sie im Umgang mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen in Deutschland ausmachte, erschien ihr all das wohl nur als Tropfen auf den heißen Stein. "Ich nahm wahr, dass meine Ansichten zwar angeregte Diskussionen auslösten, aber in der Praxis leider nichts geschah", schreibt sie.

"Man sollte mehr Hand in Hand agieren" - auf diese Forderung kommt Heisig in ihrem Buch immer wieder zurück. Polizei, Jugendamt, Schule, Staatsanwaltschaft und Richter müssten mehr voneinander erfahren und enger zusammenarbeiten. Bislang würden problematische Kinder, so wie John, einfach immer weitergereicht - und jeder hoffe, dass die anderen sich kümmern.

"Meine Kollegen und ich stehen schließlich am Ende dieser Kette von Fehlentwicklungen. Was mich stört, ist, dass ich in solchen Fällen nur als eine Art 'Reparaturbetrieb' agieren kann - und dann auch noch als erfolgloser."

Die Jugendrichterin zweifelte an den Kriminalitätsstatistiken, die insgesamt eine Abnahme der Jugendgewalt feststellen. Sie entlarvt sie als zu undifferenziert und zeichnet - untermauert von eigenen Erfahrungen und Langzeitvergleichen - ein ganz anderes Bild: Zunehmend sei zu erkennen, "dass eine schleichende Brutalisierung in den Köpfen vieler Kinder und Jugendlicher stattgefunden hat". Diese sei allein mit den Mitteln der Strafjustiz nicht zu bewältigen.

Kirsten Heisig hatte das "Neuköllner Modell" etabliert mit dem Ziel, delinquente Jugendliche ohne Einhaltung von Formeln und Fristen schnell vor den Richter zu bekommen. Man gelange, so Heisig, auch bei mäßiger Fachkenntnis zu der Erkenntnis, dass bei den eigenen Kindern ein Fernsehverbot drei Wochen nach dem zu späten Nachhausekommen nichts mehr bringt. Heisig setzte sich außerdem dafür ein, dass Eltern von Schulschwänzern durch Bußgelder bestraft werden - auch, wenn sie Hartz-IV-Empfänger sind.

Der Grund: "Nahezu alle Mehrfachtäter sind Schulverweigerer. Deshalb gilt die Schule als eine entscheidende Stellschraube, einen Lebenslauf positiv zu beeinflussen." In ihrem Kiez Neukölln würden rund 20 Prozent der Hauptschüler nicht mehr zum Unterricht erscheinen - oft ohne Konsequenzen für sie selbst oder ihre Eltern. Wenn alle helfenden Angebote aber ohne Erfolg bleiben, schreibt Heisig, dann müsste den Eltern deutlich gemacht werden, dass aus ihrer Verweigerungshaltung auch Konsequenzen erwachsen.

Die Autorin beschreibt in ihrem Buch den Nährboden für kriminelle Karrieren in sehr klaren Worten und nicht immer politisch korrekt. Sie eckte schon in den vergangenen Jahren oft mit ihren Ansichten an. In der Kantine, so schreibt die Zeit, saß die Richterin nicht selten allein, seit sie sich vorgewagt hatte, aufmüpfig wurde, unbequeme Vorschläge machte.

Heisig diagnostizierte eine "schleichende Brutalisierung in den Köpfen vieler Kinder und Jugendlicher", die allein mit den Mitteln der Strafjustiz nicht zu bewältigen sei. (Foto: getty)

Die Medien nannten sie "Richterin Gnadenlos" und "Schrecken von Neukölln", und wenn sie in ihrem Buch darüber schreibt, dann meint man, spüren zu können, wie sehr sie sich verletzt und missverstanden fühlte. Sie war nicht gnadenlos den Tätern gegenüber. Sie war gnadenlos den gesellschaftlichen Gegebenheiten gegenüber, die zulassen, dass Jugendliche ungebremst in ihr Unglück rennen und andere mitreißen.

Schwerkriminelle Jugendliche haben in Neukölln zu etwa 90 Prozent einen Migrationshintergrund, 45 Prozent sind "arabischer" Herkunft, 34 Prozent haben türkische Wurzeln und sind damit, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, weit überrepräsentiert. Heisig bietet dafür folgende Erklärung, die sie aus Gesprächen, Nachforschungen und eigenen Beobachtungen speist: Die meisten der Familien, in denen Intensivtäter heranwachsen, sind groß, sie leben von Transferleistungen und Kindergeld. Die Mütter haben nie Deutsch gelernt, sie setzen ihren Söhnen keinerlei Grenzen und überlassen sie früh sich selbst.

Hinzu komme, schreibt Heisig, dass den Jungen die Identifikationsfigur des arbeitenden Vater abhandengekommen ist. Schon früh fangen diese Kinder an, die Schule zu schwänzen, leben ohne jede Struktur. Oft werden sie kriminell, lange bevor sie strafmündig sind. Mit 14 Jahren haben sie schon Diebstähle, Raubüberfälle und Körperverletzungen auf dem Kerbholz. Heise schreibt von Jungen im Teenageralter, die Vergewaltigungen von "unbeschreiblicher Rohheit" begehen.

Wütend machte sie daran auch die "unübersehbare Tatsache, dass durch elterliches Versagen und unter den Augen der geduldig abwartenden staatlichen Institutionen schwer kriminelle Jugendliche heranwachsen können". Sie habe im Laufe der Jahre den Eindruck gewonnen, dass bei Migrantenfamilien seltener und zurückhaltender in das elterliche Sorgerecht eingegriffen werde als bei den Deutschen.

Die Distanz zwischen Staat und einigen Migrantengruppen äußert sich aber auch andersherum: So würden innerhalb der Communitys Straftaten oft nicht angezeigt. "Mich beschleicht ein ungutes Gefühl", so Heisig, angesichts der wachsenden Neigung, diese Dinge "untereinander zu regeln". Das Recht werde aus der Hand gegeben und auf die Straße verlagert.

Die verstorbene Richterin weist auf weitverzweigte Großfamilien hin, die aus den Grenzgebieten der Türkei und Syriens stammen. Diese zehn bis zwölf Clans, die einige tausend Menschen umfassen, lebten mitten in Deutschland ausschließlich nach ihren Gesetzen und würden sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis kriminell agieren: Drogendelikte, Raub, Körperverletzung, Sexualdelikte, Mord. Die männlichen Familienmitglieder zeigten eine massive Gewaltbereitschaft, die auch innerfamiliär ausgelebt werde.

Dass der Staat die Kinder, die aus diesem System nicht ausbrechen können, nicht schütze, erklärt Heisig mit "sozialromantischer Verblendung gepaart mit blanker Angst". Hinter vorgehaltener Hand würde es heißen: "Man kann kein Kind zwangsweise aus einem arabischen Clan nehmen. Die Familien erschießen jeden, der das versuchen sollte." "Angst" aber, schreibt Heisig, "ist ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt das System und den Einzelnen."

Unter anderem würden die Clans, so Heisig, neben ihren eigenen Kindern jugendliche Palästinenser als Drogenkuriere einsetzen. Diese würden aus Flüchtlingslagern im Libanon eingeschleust. Weil die Heime für unbegleitete Flüchtlinge in Deutschland offene Einrichtungen seien, würden die Teenager nach kurzer Zeit abtauchen - und dann als Drogenkuriere missbraucht.

Deshalb fordert die Autorin stärkere Kontrollen von allein reisenden Kindern und geschlossene Heime für Jugendliche, um sie den Fängen dieser Banden zu entreißen. In Berlin haben diese Passagen aus Heisigs Buch bereits eine hitzige Debatte über den Umgang mit minderjährigen Dealern entfacht.

Es wäre unlauter über die Gründe für ihren Suizid zu spekulieren. Denn Kirsten Heisig hat - soweit bekannt - im Voraus keine Andeutungen gemacht, sie hat auch keinen Abschiedsbrief geschrieben. Ganz bestimmt aber war ihr Alltag oft erschreckend, deprimierend, reich an Enttäuschung und arm an Hoffnung. Kirsten Heisig war mit all dem konfrontiert, was man lieber nicht sehen und hören möchte als Bürger eines reichen, recht friedlichen Landes. Sie aber schaute hin.

Mehr als das: Kirsten Heisig machte sich Gedanken über die Strukturen hinter den einzelnen, straffälligen Jugendlichen. Und über die Entwicklung einer Gesellschaft, die solche Jugendliche hervorbringt.

Am Ende des Buchs schreibt sie von dem unglaublichen Glück, als Frau in diesem Land zu diesem Zeitpunkt der Weltgeschichte leben zu können. Mit diesem Glück begründet sie ihren unermüdlichen Einsatz für das Recht in diesem Land. Sie wolle, dass auch die künftigen Generationen dieselben Chancen erhalten, die sich ihr boten. Und diese Chancen sah sie gefährdet, "die Gesellschaft befindet sich an einem Scheideweg", schreibt Heisig. "Sie könnte sich spalten: in reich und arm, in links und rechts, in muslimisch und nichtmuslimisch." Es sei deshalb notwendig, eine ehrliche Debatte jenseits von Ideologien zu führen. "Sie wird kontrovers, wahrscheinlich auch schmerzhaft sein. Deutschland wird sie aushalten - und mich auch."

Ihr Appell ist unmissverständlich: "Wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, wie es in dieser Gesellschaft weitergehen soll. Und wir müssen handeln." Und noch eines fügt die streitbare Frau aus Berlin-Neukölln an: "Es bleibt wenig Zeit."

Kirsten Heisig: "Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Straftäter." Herder-Verlag, 2010

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