Gewalt in Ägypten:Regierung verteidigt harten Einsatz gegen Mursi-Anhänger

Mindestens 421 Menschen sind in Ägypten bei der Räumung zweier Protestcamps der Muslimbrüder durch Sicherheitskräfte ums Leben gekommen - Ministerpräsident el-Beblawi hält das Vorgehen dennoch für richtig. In der Nacht galt eine Ausgangssperre, es soll keine größeren Zwischenfälle gegeben haben. Die USA dringen auf die Aufhebung des Notstands.

Die Entwicklungen im Newsblog. Von Tomas Avenarius, Kairo und Benjamin Romberg

Nach den Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und Sicherheitskräften, in deren Verlauf am Mittwoch mindestens 421 Menschen ums Leben gekommen sind, beendete die von der Führung verordnete nächtliche Ausgangssperre zunächst die Zusammenstöße. Die USA und die Europäische Union verurteilten die Gewalt aufs Schärfste.

  • Regierung verteidigt harten Einsatz: Die ägyptische Übergangsregierung hat ihre Entscheidung verteidigt, die beiden Protestlager der Anhänger des entmachteten Präsidenten Mohamed Mursi gewaltsam aufzulösen. "Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Dinge einen Punkt erreicht haben, den kein sich selbst achtender Staat akzeptieren darf", sagte Ministerpräsident Hasem el-Beblawi am Mittwochabend in einer Fernsehansprache. Zuvor waren offiziellen Angaben zufolge mindestens 421 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Mursi-Anhängern getötet worden. Die islamistische Muslimbruderschaft Mursis sprach von mehr als 2000 Toten. Die Regierung habe keine andere Wahl gehabt, um eine Ausbreitung von Anarchie zu verhindern, sagte Beblawi weiter. Dennoch sei die Entscheidung nicht leicht gewesen. "So Gott will, werden wir weitermachen", ergänzte der Ministerpräsident. "Wir werden unseren demokratischen, zivilen Staat errichten."
  • Mögliche Absage von Militärübung: Wegen der eskalierenden Gewalt erwägen die USA Regierungskreisen zufolge die Absage einer größeren Militärübung mit Ägypten. Es werde geprüft, ob das gewöhnlich alle zwei Jahre stattfindende Manöver "Bright Star" (heller Stern) künftig noch stattfinden werde, sagte ein Regierungsvertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. Auf dem Prüfstand steht derzeit auch die jährliche Militärhilfe der USA an Ägypten in Höhe 1,3 Milliarden Dollar. Es werde weiter untersucht, inwiefern sich die jüngsten Ereignisse auf die Beziehungen zu Ägypten auswirkten, sagte eine Sprecherin des US-Außenministeriums. Teil der Prüfung sei auch die finanzielle Unterstützung. Sollte die Entmachtung Mursis von den USA als Putsch eingestuft werden, müsste das Land seine Hilfszahlungen an Ägypten einstellen.
  • Gewalt auf beiden Seiten: Um kurz nach sechs Uhr morgens war die Polizei am Mittwoch in den beiden Lagern der Mursi-Anhänger eingerückt. Augenzeugen berichteten, sie habe Tränengas-Granaten und Gummigeschosse abgefeuert, Islamisten hätten wiederum Steine und Flaschen auf die Polizei geworfen. Das Staatsfernsehen zeigte Bulldozer, die Zelte einreißen. Polizei und Militär gingen mit sehr großer Härte gegen die Protestierenden vor, über der Stadt flogen Hubschrauber. Regierung und Islamisten beschuldigten sich gegenseitig, Scharfschützen von den Dächern auf die jeweiligen Gegner schießen zu lassen. Über dem Platz vor der Rabaa-al-Adawija-Moschee hing eine riesige Rauchwolke. Der Platz glich am Vormittag einem Schlachtfeld, meldet AFP. Der Boden eines unter einem Zelt errichteten Notlazaretts war blutüberströmt, Ärzte behandelten zahlreiche Verletzte. Im Stadtteil Mohandesien in Gizeh habe die Polizei auf jeden geschossen, schrieb die Journalistin Sophia Jones auf Twitter: "Auf mich, auf Demonstranten und auf Schaulustige, die hier leben".
  • Tote und Verletzte: Nach offiziellen Zahlen wurden landesweit mindestens 421 Menschen im ganzen Land getötet und mehr als 2.000 verletzt. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP zählte alleine auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz 124 Leichen. Unter den Toten sind auch zwei Journalisten: Sky News meldet den Tod seines Kamermannes Mick Deane, zudem ist die arabische Journalistin Habiba Ahmed Abd Elaziz ums Leben gekommen. Der Führer der Muslimbruderschaft, Mohammed El Beltagy, bestätigte im Fernsehen, dass seine 17-jährige Tochter unter den Toten sei. Dem Innenministerium zufolge starben 43 Polizisten bei den Zusammenstößen.
  • Rücktritt des Vizepräsidenten: Der ägyptische Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei hat nach den schweren Ausschreitungen seinen Rücktritt eingereicht. "Ich habe meinen Rücktritt eingereicht, weil ich nicht die Verantwortung für Entscheidungen tragen kann, mit denen ich nicht einverstanden bin", sagte er nach Angaben des Nachrichtensenders Al-Arabija. Die Polizei hätte die Protestlager der Islamisten in Kairo nicht mit Gewalt räumen müssen. Es seien noch nicht alle friedlichen Alternativen ausgeschöpft gewesen, erklärte ElBaradei. "Bedauerlicherweise werden diejenigen, die zu Gewalt und Terror aufrufen, von dem, was heute geschehen ist, profitieren", heißt es in dem Rücktrittsschreiben ElBaradeis an Übergangspräsident Adli Mansur. "Es ist für mich schwierig geworden, weiter die Verantwortung für Entscheidungen zu treffen, mit denen ich nicht übereinstimme, und deren Auswirkungen mir Angst machen", erklärte er. "Ich kann nicht die Verantwortung für einen einzigen Tropfen Blut übernehmen."
  • Weiteres Vorgehen der Regierung: Übergangspräsident Adli Mansur hat für einen Monat den Notstand ausgerufen. Das teilte das Präsidialamt in Kairo mit. Der Ausnahmezustand werde um 16 Uhr (MESZ) beginnen, hieß es in einer Erklärung, die kurz im staatlichen Fernsehen verlesen wurde. Die Armee wurde aufgefordert, das Innenministerium bei der Wiederherstellung der Sicherheit zu unterstützen. Die Ausrufung des Notstandes ermöglicht Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung. Zudem hat die Regierung eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Danach darf sich in Kairo und elf anderen Provinzen zwischen 19 Uhr und 6 Uhr niemand auf den Straßen bewegen. Die Ausgangssperre werde einen Monat lang dauern, sagte ein Regierungssprecher. Wer sich ihr widersetze, werde mit Gefängnis bestraft.
  • Reaktion der Islamisten: Die Muslimbruderschaft rief die Ägypter auf, auf die Straße zu gehen, um gegen das "Massaker" zu protestieren. Über Twitter teilen die Islamisten mit, dass sie am Mostafa-Mahmoud-Platz ein neues Lager errichteten. Vor der Rabaa-al-Adawija-Moschee würden inzwischen neue Barikaden errichtet, meldet CNN. In der nördlichen Küstenstadt Marsa Matruh sei ein Verwaltungsgebäude von Mursi-Anhängern gestürmt worden. In den Provinzen Minia und Sohag sollen Islamisten Feuer in drei koptischen Kirchen gelegt haben. Sympathisanten der Muslimbruderschaft haben zudem eine Polizeiwache in der ägyptischen Provinz Beni Sueif eingenommen. Dabei wurde ein Polizist getötet. Hunderte von Mursi-Anhängern haben am Mittwochabend das Protestlager vor der Rabea-al-Adawija-Moschee in Kairo verlassen. Polizeibeamte sagten, fast alle Teilnehmer der Protestaktion, die bis zuletzt Widerstand geleistet hatten, seien inzwischen abgezogen.
  • Internationale Reaktionen: UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat die Gewalt "auf das Schärfste" verurteilt. Außenminister Guido Westerwelle zeigte sich "extrem besorgt". Er forderte beide Seiten zum Gewaltverzicht auf. Außerdem berief er den Krisenstab des Auswärtigen Amts in Berlin ein. Auch die USA haben den Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten in Ägypten und die Verhängung des Notstands auf das schärfste verurteilt. "Wir haben das ägyptische Militär und die Sicherheitskräfte mehrfach dazu aufgefordert, sich zurückzuhalten und die Rechte seiner Bürger zu achten", sagte der stellvertretende Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest. Die andauernde Gewalt werde den Weg zu einer stabilen Demokratie nur erschweren. "Die heutigen Ereignisse sind beklagenswert und laufen dem ägyptischen Streben nach Frieden, Zusammenhalt und echter Demokratie zuwider", sagte US-Außenminister John Kerry. Der Notstand müsse so schnell wie möglich aufgehoben werden. Der einzige Ausweg sei eine politische Lösung. Die Europäische Union rief die ägyptischen Behörden zu "größtmöglicher Zurückhaltung" gegenüber den Demonstranten auf. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Vereinten Nationen und die Arabische Liga zum Handeln aufgefordert. Es seien sofortige Schritte nötig, um "das Massaker zu stoppen".
  • Forderung der Demonstranten: Die Muslimbrüder wollen, dass der am 3. Juli vom Militär entmachtete Präsident Mohammed Mursi wieder als Präsident eingesetzt wird. Dazu hatten sie in den vergangenen Wochen zwei Protestlager errichtet und mit Ziegelsteinen und Sandsäcken befestigt. Die Regierung hatte mehrfach angekündigt, die Lager räumen zu lassen.
Sit-in of Morsi supporters cleared in Cairo

Ägyptische Sicherheitskräfte in Kairo

(Foto: dpa)
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