Süddeutsche Zeitung

Gewalt in Ägypten:Ein Land in Angst

Woher? Wohin? Wer gegen wen? Das sind schwierige Fragen in Kairo, wo bewaffnete Teenager oder Greise mit Jagdwaffen die Straßen sperren. Wir sind friedliche Menschen, sagen viele Ägypter hilflos. Doch Militär und Islamisten bekämpfen sich ohne Gnade.

Von Sonja Zekri, Kairo

Es war ein Tag, an dem Ägypten die Gewalt förmlich erwartete, und den manche "schwarzen Freitag" nannten noch vor der Morgendämmerung. Wie eine Wolke breitete sich die Angst in der Stadt aus, vom frühen Morgen mit leeren Straßen und verrammelten Geschäften bis zum Mittag, als die ersten Islamisten auf die Straße strömten und ihr Katz- und Maus-Spiel mit dem Staat begannen.

Das Innenministerium hatte am Donnerstag gedroht, scharf zu schießen, sollten sich Demonstranten staatlichen Einrichtungen nähern. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums hatte erklärt, im Kampf gegen Terrorismus könne man keine Rücksicht auf Menschenrechte nehmen. Alle paar Stunden korrigiert das Gesundheitsministerium die Zahl der Toten vom Mittwoch nach oben, ist nun bei fast 700 angekommen, und im Internet kursieren Aussagen von Ministeriumsmitarbeitern, dass man die wahre Zahl verschweige, "um eine Katastrophe zu verhindern".

Die Islamisten hatten sich, ihre Anhänger und das Land auf den "Freitag der Wut" vorbereitet. Muslimbruder-Sprecher Gehad al-Haddad hatte zugegeben, dass seine Organisation, die vor einem Jahr noch übermächtig erschien, einen schweren Schlag erhalten habe, und drohte zugleich, nach all den Toten und den Verhaftungen könne niemand mehr die Gefühle kontrollieren. Dutzende Kirchen sind seit Mittwoch von frustrierten Islamisten in Brand gesteckt worden, auch Polizeistationen, sogar der Sitz der Provinzregierung in Giza bei Kairo.

Aber auch die anderen, die Armee-Anhänger, machten mobil. Die Kampagne "Tamarod", Rebell, die von einer Anti-Mursi-Bewegung zum Lautsprecher der Armee geworden ist, hatte alle Ägypter aufgerufen, zur Verteidigung der Kirchen und der Revolution auf die Straße zu ziehen - und um eine Botschaft an US-Präsident Barack Obama zu senden. Dieser hatte am Donnerstag ein gemeinsames Manöver abgesagt, was Ägyptens Übergangspräsident Adli Mansur mit den Worten zurückwies, Obama stärke die gewaltbereiten bewaffneten Gruppen.

Die Armee hat den Tahrir-Platz abgeriegelt

Die Armee hat den Tahrir-Platz mit Schützenpanzern und Stacheldraht abgeriegelt, ebenso Straßen Richtung Innenstadt, Brücken, Plätze früherer Versammlungen. Polizeiautos fahren in Konvois durch die leeren Straßen, zu sehen sind Dutzende Beamte mit schwarzen Masken vor dem Gesicht und Sturmgewehren. Ganze Konvois von Ambulanzen bringen sich am Morgen in Position.

Im Kairoer Stadtteil Nasr-City hat die Armee die Region um das blutig zerschlagene Islamisten-Zeltlager abgeriegelt. Hier, wie an vielen Orten der Stadt, ist der Asphalt aufgerissen. Ausgebrannte Autos, Trümmer, Scherben und kein Mensch weit und breit: Stadt in Angst. Wir Ägypter sind friedliche Menschen, sagen viele hilflos, wir tun so etwas nicht. All diese Zerstörung, die Gewalt, das Blut sind das Werk von fremden Terroristen, nicht von Ägyptern.

Aber dann, wie ein quälend bekanntes Ritual, steigert sich die Spannung. Nach dem Mittagsgebet strömen Zehntausende in die Stadt, aus Nasr-City, aus Agusa, Heluan. Einige - nicht sehr viele - tragen Plakate mit dem Bild Mohammed Mursis, des untoten Ex-Präsidenten.

Gegen Mittag erreichen die Islamisten den Ramses-Platz am Bahnhof. Üblicherweise drängen sich hier Minibusse und fliegende Händler, die Sonnenbrillen und falsche Rolex-Uhren verkaufen. Nun versammeln sich hier Tausende. Keine zwei Stunden später fliegen die ersten Tränengaspatronen, es folgen Schüsse mit scharfer Munition. Eine Gruppe hat eine Polizeistation angegriffen, berichtet die BBC, danach ging es los. Später reißen sie Eisenzäune aus dem Boden, um Barrikaden zu errichten. Kurz darauf liegt der Platz unter einer schwarzen Rauchwolke, die ersten Opfer werden fortgebracht, mit Kopfschuss. In der Al-Fath-Moschee in der Nähe des Ramsesplatzes zählen Reporter Dutzende Tote. Im ganzen Land sterben bis zum Abend mindestens 70 Menschen.

Selbst die ruhigsten Stadtteile sind inzwischen umkämpft. Aus einem Zug der Islamisten über die Brücke des 15. Mai Richtung Ramses-Platz schießt einer der Islamisten mit einem Gewehr auf Wohnhäuser. Ein Polizist mit weißem Polo-Shirt und Revolver zu Füßen der Brücke beruhigt: Die Sicherheitskräfte haben alles im Griff. "Wir werden nicht zulassen, dass sie ein neues Protestlager errichten." Kurz vor dem Ramsesplatz schlagen Männer mit Gewehren und Knüppeln den Islamisten-Zug aus dem Armenviertel Bulaq zurück.

Das Staatsfernsehen zeigt nie Opfer der Islamisten

Das Hin und Her auf der Brücke dauert Stunden. Woher? Wohin? Wer gegen wen? Das sind schwierige Fragen in einer Stadt, in der bewaffnete Teenager oder Greise mit Jagdwaffen in "Volkskomitees" die Straßen sperren, Ausweise kontrollieren. Am Himmel kreisen Hubschrauber. In einer Seitenstraße blafft ein Mann einen Minibus-Fahrer an, der sein Auto in Sichtweite der Islamisten auf der Brücke geparkt hat: "Was denkst du dir? Sie schießen von da oben! Bist du besoffen?" Die Stimmung ist klaustrophobisch.

Seit Beginn der Krise warnen Beobachter davor, dass zumindest ein Teil der Islamisten die Politik ganz aufgeben und sich der Gewalt zuwenden könnte. Die Lesart der neuen Regierung, der Sicherheitskräfte, der Medien und infolgedessen vieler Ägypter ist eine andere: Die Islamisten waren immer schon Terroristen. Die jetzige Gewalt sei ein Rückzugsgefecht der Religiösen, ein kathartischer Moment der Geschichte, danach werde es besser.

Das Staatsfernsehen zeigt bewaffnete Islamisten, fanatische Bärtige mit der schwarzen Flagge der Radikalen oder verletzte Polizisten, aber so gut wie nie die Opfer unter den Muslimbrüdern. Seit neuestem läuft außerdem ein Spruchband auf Englisch unter den Bildern: "Ägypten bekämpft den Terrorismus."

Und Kairo ist ja nur einer der Unruheherde. In der Delta-Stadt Tanta kommt es zu Zusammenstößen, es gibt Tote, melden ägyptische Medien. In Ismailia sterben vier Demonstranten. In Oberägypten entlädt sich die Wut der Islamisten an den Christen. Dutzende Gotteshäuser sind abgebrannt.Die Muslimbrüder haben zwar jede Verantwortung von sich gewiesen und die Zerstörung von Kirchen verurteilt - aber den Kopten-Papst Tawadros haben sie als Drahtzieher der Entmachtung Mursis dargestellt, als Feind der Scharia, aller Muslime. Da wird der Angriff auf Christen zur reinen Selbstverteidigung. Am Abend, nach Einsetzen der Ausgangssperre, erklären die Islamisten den "Tag des Zorns" für beendet. Und kündigen nun tägliche Demonstrationen an.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2013/schma
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