Süddeutsche Zeitung

Gewalt im Gazastreifen:Die Hamas vergisst ihre Verantwortung

Die radikalen Islamisten haben die Bürgerproteste gegen Israel für ihre Zwecke missbraucht. Aber auch das Vorgehen der israelischen Streitkräfte war völlig überzogen.

Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Was als Bürgerprotest im Gazastreifen am 30. März begonnen hat, ist von der radikalislamischen Hamas für ihre Zwecke missbraucht worden. Die Hamas trägt durch den Aufruf, die Grenze zu Israel zu durchbrechen, Mitverantwortung für die Eskalation der Gewalt. Ihre Führer haben gezielt junge Männer an den Zaun geschickt - im Wissen, was geschehen könnte.

Aber es kam dann noch schlimmer, als es die Ankündigungen erwarten ließen: Das Vorgehen der israelischen Streitkräfte war völlig überzogen, wie die Zahl der Toten und die Vielzahl und Schwere der Verletzungen zeigt. Es war unverhältnismäßig: Mit scharfer Munition gegen Steine, eine hochgerüstete Armee gegen Jugendliche mit Molotowcocktails und mit Lenkdrachen - dazwischen eine gut gesicherte Grenze. Bei einem Gespräch mit dem nordamerikanischen jüdischen Dachverband JFNA gestand Armeesprecher Jonathan Conricus nach Darstellung der Tageszeitung Haaretz ein, dass Palästinenser getroffen worden sind, die nicht das Ziel gewesen seien. Israel habe versagt, die Anzahl der Opfer in Grenzen zu halten, einige habe es irrtümlich erwischt.

Die Hamas selbst gab bekannt, dass 50 der 62 am Montag Getöteten ihre Mitglieder gewesen seien, der Islamische Dschihad verlor nach eigenen Angaben drei Mitglieder. Aber das rechtfertigt noch immer nicht diesen massiven Waffengebrauch der israelischen Armee, seit Beginn der Proteste vor sieben Wochen wurden 117 Menschen getötet. Eine internationale Untersuchung verweigert Israel wohlweislich.

Der Hamas ist es so jedenfalls gelungen, dass sich die zunehmende Wut der Palästinenser über ihre eigene Führung wieder voll auf Israel und die USA richtet, die durch die Botschaftseröffnung in Jerusalem den Konflikt noch einmal angeheizt haben. Dabei waren es Vertreter der Zivilgesellschaft, die ursprünglich den "Marsch der Rückkehr" organisierten. Diese Bürger wollten aus Anlass des 70. Jahrestags der Staatsgründung Israels an Flucht und Vertreibung der Palästinenser erinnern.

Die Empörung über die vielen Toten hielt sich im Westjordanland in Grenzen

Die Demonstrationen an den Grenzen waren auch ein Schrei nach Aufmerksamkeit, damit die Welt registriert, wie es den circa zwei Millionen Palästinensern im abgeriegelten Gazastreifen geht: Es gibt viele Bewohner, die noch nie ihr dicht besiedeltes Stück Land verlassen durften. Sie haben zu Recht das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben. Zwei Drittel der unter 29-Jährigen haben keine Arbeit und keine Perspektiven. Vor allem sie sind es, die das Gefühl haben, einen "langsamen Tod" zu sterben, nichts zu verlieren zu haben - und Aufrufen der Hamas folgen.

Alle Bewohner im Gazastreifen leiden unter der ökonomischen Misere: zum einen ausgelöst durch die seit 2007 bestehende Blockade Israels, Ägypten öffnet den Grenzübergang nur gelegentlich. Zum anderen trägt der innerpalästinensische Streit dazu bei: das Missmanagement der Hamas und Kürzungen von Stromlieferungen und Gehältern bei den Beamten der Fatah, die mit der Hamas im Streit liegt.

Die Empörung über die vielen Toten im Gazastreifen hielt sich bei Palästinensern im Westjordanland und in der arabischen Welt in Grenzen, es beteiligten sich nur wenige an Demonstrationen. Im Gazastreifen wird dies das Gefühl des Vergessenseins verstärken. Das ist der Nährboden für die nächsten Proteste.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3983831
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.05.2018/crm/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.