Am 26. Juni 1947 beantragte die Betreuungsstelle für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Forchheim beim örtlichen Gesundheitsamt Akteneinsicht, um die Möglichkeit der Entschädigung für einen Mann, der Zwangssterilisation erlitten hatte, zu prüfen. Dies wurde vom Amtsarzt Dr. Gärtner verweigert, da sie als „Laien“ vorsprachen. Das Verbot war gängige Strategie seitens des Bayerischen Öffentlichen Gesundheitsdienstes: Ansprüche so früh wie möglich im Keim ersticken. Dr. Fritz Aub, einer der Leiter der Behörde, erreichte zudem, Akteneinsicht auch Gerichten, Spruchkammern, dem Landesentschädigungsamt wie dem Staatskommissariat für rassisch, politisch und religiös Verfolgte zu verweigern. Gegenteilige Positionen, wie die des hochrangigen Personalreferenten Dr. Raymund Wreschner, der das Recht der Geschädigten auf Akteneinsicht zur „Aufdeckung etwaiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vertrat, wurden übergangen.
Dies ist nur einer der verstörenden Einblicke in den Nachkriegsalltag der Gesundheitsverwaltung in Bayern, die in einer innovativen Studie, der Dissertation der Historikerin Sophie Friedl, zutage gebracht werden. Verstörend, angesichts der Bilanz der Verbrechen, die im Namen der NS-Erbgesundheitspolitik von und im Namen der Medizinalverwaltung verübt worden waren: die Verfolgung politisch missliebiger und jüdischer Ärzte, die Zwangssterilisationen und -abtreibungen, die Zwangsbehandlungen in den Psychiatrien, die „Euthanasie“-Mordaktionen, die Beteiligung an Kriegsverbrechen gegen (ausländische) Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Konzentrationslagerhäftlinge. So lautet die zentrale Frage der Untersuchung, ob und in welcher Weise der dafür zentrale Machtapparat in der Lage war, sich nach dem Zweiten Weltkrieg an die demokratischen Verhältnisse einzupassen. Der Fokus liegt auf dem ersten Jahrzehnt nach Verabschiedung des Grundgesetzes.
Demokratie lernen erster und zweiter Ordnung
Dabei lernt der Leser im Laufe der Lektüre, sich von idealisierten Vorstellungen von „Demokratie-Lernen“ zu verabschieden. Denn Friedl zählt den geschilderten Umgang mit den Opfern der Zwangssterilisation in diesem Sinne als Lernerfolg, da es dem Amtsarzt wie der übergeordneten Behörde gelang, die Macht der medizinischen Expertise zu erhalten, ohne sich auf die in der Öffentlichkeit weitgehend verpönte Rassenhygiene zu berufen. Weit entfernt davon, den Geschädigten, die auch seitens der Alliierten nicht als nationalsozialistische Opfer anerkannt wurden, zu ihrem Recht zu verhelfen, setzten sie nach wie vor ihre ärztliche Diagnose über das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Zudem sollte eine Diskussion über ärztliche Mittäterschaft im Keim erstickt werden.
Dieses strategische Verhalten wird von Friedl als „Lernen erster Ordnung“ mittels opportunistischer Anpassung an die neuen Verhältnisse gewertet. Unterschieden davon ziele allein das „Lernen zweiter Ordnung“ auf eine grundlegende inhaltliche Umorientierung auf einen neuen Kanon ärztlicher Ethik. Nur dieses „Lernen zweiter Ordnung“ bricht mit Prinzipien nationalsozialistischer Biopolitik und ermöglicht, dass sich ärztliches Handeln an Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundwerten orientieren kann. Friedl zeigt auf, dass bis in die 1960er-Jahre ein Lernen durch Anpassung an demokratische Sprach- und Spielregeln bei der Mehrheit der Verantwortlichen in der Medizinalverwaltung dominierte. NS-Ideologeme sogenannter erbbiologischer Ungleichwertigkeit wurden zwar aus der Sprache gestrichen, nicht aber im Weiterwirken antidemokratischer Denk- und Handlungsmuster. Dies belegt Friedl auf der Basis umfangreicher Quellenfunde, die Aufschluss über den Dienstalltag geben: im Innenministerium, in den Gesundheitsämtern, in den Psychiatrien und Krankenhäusern oder beim Verfassen von Gesetzesentwürfen.
Repressive Maßnahmen, nur mit anderer Begründung
So beschränkte sich die Strategie der Gesundheitsämter bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten auf repressive Maßnahmen gegen eine angeblich „asoziale“ Hauptrisikogruppe, anstatt Antworten auf die realen gesundheitspolitischen Herausforderungen wie Hunger, Säuglingssterblichkeit und Epidemien zu finden. Stattdessen wurden die NS-Karteien und Sippentafeln, die auch der Begründung angeblich erblicher Minderwertigkeit von „Asozialität“ dienten, als „Gesundheitskarteien“ weitergeführt. In den Psychiatrien wurde die Praxis von Zwangsbehandlungen ausgebaut, die vor allem Patienten mit langer Aufenthaltsdauer und „schwierige“ Patienten traf. Diese Kriterien entsprachen auch denjenigen der Selektion für die „Euthanasie“-Mordaktionen.
Doch auch diese „Lernhindernisse“ und „Lernblockaden“ für die Internalisierung demokratischer Werte und Verfahren mussten immer wieder den neuen rechtsstaatlichen Grundsätzen angepasst werden. Und so stieß dieses strategische Lernen, wenn auch ungewollt, eine schleichende Umorientierung hinsichtlich des Austarierens zwischen kollektiven Sicherheitsrechten und individueller Freiheitsrechte an. Entscheidend für diesen Lernprozess allerdings war, dass er nicht trotz, sondern dank der hierarchischen Struktur des Gesundheitsdienstes realisiert werden konnte. Und dies ist ein weiterer Befund der Studie, der mit der verbreiteten Annahme, dass Demokratie lernen auch mit demokratischen Formen einhergehen muss, bricht. Es zeigte sich, dass die Führungsriege juristisch versierter Beamter in der Gesundheitsabteilung im Innenministerium wie auch in den Regierungen sich schneller an die rechtsstaatliche Ordnung anpasste und verstand, dass rassenpolitische und eugenische Praktiken der Missachtung individueller Rechte zumindest prinzipiell durch die neuen Verfassungsordnungen und einschlägiger Rechtsprechungen nicht mehr gedeckt waren.
Wie dieser Lernprozess, angestoßen durch die Hierarchie, funktionierte, macht Friedl durch eine Typologie der politischen Profile der leitenden Ärzte hinsichtlich ihrer Einstellungen in der NS-Zeit wie auch ihres Verhaltens in der Demokratie nachvollziehbar. Sie analysiert die politisch-biografischen Prägungen ausgehend von der jeweiligen Haltung in der NS-Zeit und kommt so zu vier Gruppen: Die stark in den Nationalsozialismus Involvierten (1), die vor allem in der mittleren und unteren Ebene wieder eingesetzt wurden; die Konformen und Systemtragenden, die ab den 1950er-Jahren wieder zu leitenden Positionen kamen (2); die moderat Oppositionellen, Distanzierten und Diskriminierten, aus denen sich bis zu Beginn der 1950er-Jahre die Führungsriege rekrutierte, (3) und die existenziell Bedrohten und Widerständigen (4).
Die moderat Oppositionellen übernahmen die Führung
Da die Alliierten alle NS-Angehörigen nach 1945 aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst entließen– allen voran den Leiter der Medizinalverwaltung und Blutordensträger Dr. Walter Schultze, der von Reichsärzteführer Gerhard Wagner 1933 persönlich eingesetzt worden war –, wurde die Führungsriege in der Gesundheitsabteilung und den leitenden Referaten in den Bezirksregierungen bis in die 1950er-Jahre vor allem aus der Gruppe der moderat Oppositionellen besetzt. Nur einer aus der Gruppe der Verfolgten, Dr. Hugo Hösch, war kurzzeitig Leiter der Gesundheitsabteilung. Die zweite Gruppe der „Konformen“ stellte die große Mehrheit des Personals, unter ihnen die einflussreiche Gruppe der jungen Ärzte, die in der NS-Zeit studierten und die Militärärzte waren, unter ihnen Dr. Bernhard Kläß, spätere Leiter der Gesundheits- und Krankenhausabteilung des Ministeriums für Arbeit- und Sozialordnung. Das Fehlen von Ärztinnen, und zwar auf allen Ebenen innerhalb des Gesundheitsdienstes bis weit über die 1970er-Jahre hinaus, wertet Friedl als akzeptierte Praxis, Standards der Gleichstellung absichtlich nicht umzusetzen. Nur zwei Frauen wurden als kommissarische Leitungen eingesetzt, die von den 1970er-Jahren an, als die Lücke der männlichen Ärzteschaft wieder geschlossen war, um ihre Positionen fürchten mussten.
Den Bogen zu heute schlägt Friedl mit der Gruppe der „Impulsgeber“. Gemeint sind diejenigen, die sich den eingeübten Konventionen des strategischen Angepasstseins unterwarfen und die Aufarbeitung der Medizinverbrechen einforderten. Doch aufgrund der mächtigen Netzwerke von vor 1945, die sich insbesondere nach dem Rückzug der Alliierten als stärker erwiesen, verpuffen die Initiativen, und die Impulsgeber scheiterten. Einer von ihnen war Dr. Gerhard Schmidt, der von den Alliierten als kommissarischer Direktor in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingesetzt wurde. Aufgrund seiner Tätigkeit als Oberarzt in der Psychiatrie im Schwabinger Krankenhaus wusste er um die NS-Verbrechen der Medizin. Sofort begann er mit der Dokumentation der Krankenmorde. Doch nach einer erfolgreichen Intrige gegen ihn wurde er abgesetzt. Sein Buch „Selektion in der Heilanstalt“ sollte erst im Jahr 1965 erscheinen, als Grundlage für die Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen im Namen der Medizin, nicht nur in Eglfing-Haar. Seit Juni 2023 trägt ein Platz auf dem Klinikgelände seinen Namen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade eine Nachwuchswissenschaftlerin neue Wege geht, um den Systemwechsel zwischen Diktatur und Demokratie in einer für die nationalsozialistische Ideologie wirkmächtigsten Institution in Bayern zu untersuchen. Das staatliche Gesundheitswesen exekutierte in den privaten, sensiblen Bereichen von Krankheit, Familie und Sexualität die mörderische Rassenpolitik, Leidtragende waren vermeintlich erbbiologisch Minderwertige. Friedl richtet statt auf etablierte systemische Deutungskonventionen von (Dis-)Kontinuitäten den Fokus auf die Ärzte als die Hauptakteure, die nach 1945 ungeschoren davonkamen. Sie wählte „Lernen“ als Indikator für das Ineinandergreifen von ethischen Wertekonzepten, deren Prägungen durch das NS-Regime und ärztlichem Handeln. Kurzfristig entpuppt sich dies vor allem als Anpassung einer konformistischen Mehrheit an Verwaltungsformen und Rechtsnormen. Mittel- und langfristig scheinen die demokratischen Impulsgeber im Bündnis mit einer nachwachsenden Generation gewonnen zu haben. Offen bleibt, unter welchen Bedingungen nach wie vor existente antidemokratische Traditionen wieder an Einfluss gewinnen können.
Annette Eberle ist Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Stiftungshochschule München in Benediktbeuern.