Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsreform in den USA:Richter zwischen den Fronten

Kaum eine politische Debatte hat die USA so tief gespalten wie jene über die Gesundheitsreform. Nun entscheidet der Supreme Court über das Schicksal des wichtigsten Reformwerks von Präsident Obama. Chief Justice John Roberts steht im Mittelpunkt eines Verfahrens, das enormen Einfluss auf den Wahlkampf haben wird.

Reymer Klüver, Washington

Es ist ein Fall, wie er in Jahrzehnten nicht vor Amerikas Oberstem Gerichtshof, dem Supreme Court, landet. Manche sagen gar, es ist ein Verfahren in Dimensionen, wie es das neunköpfige Richtergremium nur alle halbe Jahrhunderte zu entscheiden hat.

Zuletzt etwa 1954, als ein Urteil des Obersten Gerichtshofs die Bürgerrechtsgesetzgebung und das Ende der Rassentrennung in den USA einleitete. Andere gehen noch weiter zurück, in die dreißiger Jahre. Damals hatte der Supreme Court Teile des New Deal für nichtig erklärt - jener tiefgreifenden Reformen, mit denen Präsident Franklin D. Roosevelt der US-Wirtschaft nach der Depression wieder auf die Beine helfen wollte.

Ähnliches steht nun auf dem Spiel. Die neun Richter entscheiden über das Schicksal der Gesundheitsreform, des wichtigsten Reformwerks von Präsident Barack Obama. Es würde nicht weniger als 31 Millionen Amerikanern, die sich derzeit keine Krankenversicherung leisten können, einen Versicherungsschutz verschaffen. Damit würde die Reform die Vereinigten Staaten von der zweifelhaften Auszeichnung befreien, das letzte Land unter den westlichen Industriestaaten zu sein, das einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung schlicht ohne ausreichende Gesundheitsversorgung belässt.

Das Urteil zur Gesundheitsreform (offiziell "Patient Protection and Affordable Care Act": Gesetz zum Patientenschutz und für eine erschwingliche Gesundheitsversorgung) wird aber ohne jeden Zweifel auch in eine politische Debatte eingreifen, welche die Gesellschaft der USA so tief gespalten hat wie schon lange nichts mehr. Die Tea Party wurde nicht zuletzt von der Empörung zahlreicher konservativer Amerikaner über die Reform befeuert.

Zudem wird die Gerichtsentscheidung enormen Einfluss auf den Präsidentschaftswahlkampf im Herbst haben. Die Republikaner wollen die weitgreifende Reform in Bausch und Bogen abschaffen, für die sie die durchaus negativ gemeinte Bezeichnung Obamacare durchgesetzt haben. Der Präsident und die Demokraten verteidigen sie als Teil seiner Bemühungen, die US-Gesellschaft gerechter zu gestalten.

Im Mittelpunkt des Jahrhundertverfahrens dürfte der Mann stehen, der regelmäßig auch in der Mitte seiner acht Kollegen auf der Richterbank des Supreme Court in Washington Platz nimmt: John Roberts, der konservative Chief Justice, der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs. Er dürfte in den kommenden Wochen zwischen zwei Leitlinien zu wählen haben, welche die Entscheidungen des Gerichts unter seiner Führung in den vergangenen Jahren geprägt haben.

Zum einen hat der 57 Jahre alte Richter, einer der jüngsten Obersten Richter der USA, immer wieder zu verstehen gegeben, wie wichtig ihm die Würde des Gerichts ist. Er will den Supreme Court als eine Art Schiedskommission verstanden wissen, die wirklich über den Dingen steht, weit oberhalb des Morasts, in dem gerade Amerikas politische Grabenkämpfe ausgefochten werden. "Als Oberster Richter ist Roberts äußerst vorsichtig mit dem Ruf der Institution umgegangen", sagt der New Yorker Jurist Barry Friedman, der den Obersten Gerichtshof aufgefordert hat, die Gesundheitsreform nicht zu Fall zu bringen.

Tatsächlich hatte Roberts bei der Anhörung im Senat, die seiner Berufung 2005 vorausging, "juristische Zurückhaltung" versprochen und zugesagt, Grundsatzentscheidungen des Supreme Court aus vergangenen Jahren unangetastet zu lassen. Eine Zusicherung, die linke Kritiker Roberts' mittlerweile in Hohngelächter ausbrechen lässt.

Denn - und das ist offenkundig die andere Leitlinie Roberts' - unter seiner Führung ist der Supreme Court klar nach rechts gerückt. "Roberts entstammt dem konservativen Flügel der Republikaner", sagt der Verfassungsjurist James Simon von der New York Law School. In einer Reihe von Entscheidungen hat das Gericht eindeutig Partei ergriffen, unter dem Beifall der Republikaner. Fünf der neun Richter wurden von republikanischen Präsidenten berufen; Roberts wurde von George W. Bush nominiert.

Und sie entschieden in Grundsatzfragen gegen die Stimmen der vier linken, von demokratischen Präsidenten berufenen Richter im Sinne konservativer Orthodoxie. Sie hoben die Grenzen für Großspender in Wahlkämpfen auf, was Milliardären und Millionären sowie Unternehmen einen Einfluss auf den Präsidentschaftswahlkampf verschafft hat, den sie seit Generationen nicht hatten. Sie haben Begrenzungen für Waffenbesitz wie den Waffenscheinzwang beiseite gewischt. Und sie haben die Rechte mutmaßlicher Straftäter spürbar eingeschränkt. Beide Reflexe dürfte Roberts bei der Entscheidung über die Gesundheitsreform schwer unter einen Hut bringen.

Die Frage ist, was ihm wichtiger ist. Wenn das Gericht wie in den anderen Grundsatzfragen bei seiner Entscheidung streng entlang der ideologischen Grenzen urteilt, welche die neun Richter trennen und das gesamte Land teilen, dann hätte die Gesundheitsreform keine Chance. Das Ergebnis wäre fünf zu vier gegen die Reform.

Oder aber Roberts' anderer Impuls dominiert, und er versucht, eine breite Mehrheit im Gericht herzustellen, die eine Entscheidung über die Gesundheitsreform letztlich der politischen Mehrheit im Kongress überlässt. Wie die Angelegenheit ausgehen wird, sind sich selbst intime Kenner der verschlungenen Entscheidungsprozesse am Supreme Court nicht sicher.

Es gibt Hinweise in beide Richtungen. So dürften Roberts und seine vier konservativen Kollegen grundsätzlich eher gegen das Reformwerk eingestellt sein. Bei drei Richtern gilt das Urteil als sicher: Die Richter Antonin Scalia, Clarence Thomas und Sam Alito dürften die Versicherungspflicht ablehnen. Nicht klar ist aber, wo Anthony Kennedy steht, der mitunter seinen vier eher linken Richterkollegen zu einer Mehrheit verhilft.

Noch anders gelagert ist der Fall bei Roberts. Experten gehen davon aus, dass er sich im Zweifel nicht auf die Seite der Linken schlagen würde. Sollte das aber Kennedy tun, so die Einschätzung, könnte sich das auch Roberts überlegen, um der Entscheidung des Gerichts eine breitere Basis und Legitimität zu geben. Etwas, was beispielsweise der hochumstrittenen Entscheidung des Supreme Court zur Freigabe der Wahlkampffinanzierung fehlt.

In der Sache geht es in der Verhandlung über die Gesundheitsreform gar nicht so sehr um inhaltliche Fragen. Also etwa darum, ob es nicht ein erstrebenswertes Ziel wäre, einen sozialen Missstand erster Güte zu beseitigen und Millionen Amerikanern anständigen Krankenversicherungsschutz zu verschaffen. Im Zentrum des Verfahrens steht vielmehr die Frage, was eine Regierung in den USA darf, genauer gesagt die Bundesregierung in Washington.

Darf sie die Krankenversicherungspflicht einfach anordnen, wie es das Gesetz letztlich tut, und damit die Bürger zwingen, eine Krankenversicherung abzuschließen? Oder ist das eine unzulässige Einschränkung der Freiheitsrechte? Und darf sie den Bundesstaaten vorschreiben, einen Teil der Kosten zu übernehmen? Denn der überwältigende Teil der bisher nicht versicherten Amerikaner dürfte ohnehin in die staatliche Krankenversicherung für Arme, Medicaid, aufgenommen werden, die von Bund und Bundesstaaten finanziert wird.

An diesem Montag beginnt nun eine auf sechs Stunden an drei Tagen angesetzte Anhörung vor dem Gericht. So viel Verhandlungszeit hatte der Supreme Court zuletzt bei einem Fall vor knapp 45 Jahren anberaumt. Ihre Entscheidung dürften die Richter aber erst im Juni bekannt geben, wenn das Gericht traditionell in die Sommerpause geht.

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SZ vom 26.03.2012/sebi
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