Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Neue Hürden für Patienten

Spahns nächster Vorschlag zu Psychotherapien stößt wieder auf Kritik.

Von Kristiana Ludwig, Berlin

Was auf dem Papier steht und wie die Realität ihrer jungen Patienten aussieht, das ist in der Praxis der Kinder- und Jugendtherapeutin Ariadne Sartorius mitunter sehr unterschiedlich. Ein Beispiel ist die Agoraphobie, der Angst vor der Öffentlichkeit. Da gibt es die Jugendlichen, die sich vor Menschenmengen fürchten, vor einer Fahrt mit der U-Bahn oder mit dem Aufzug. Und dann gibt es Jugendliche, bei denen dieses Problem tiefer liegt. Etwa, weil sie einen depressiven Vater haben, der sagt: Lass mich nicht allein. Geh nicht aus dem Haus.

So kann die Diagnose "Agoraphobie" bei Sartorius entweder dazu führen, dass sie mit ihren Patienten trainiert, in eine U-Bahn zu steigen - oder dass auf die ersten Gespräche jahrelange Therapiesitzungen folgen. In der Psychotherapie bedeutet eine Diagnose also etwas anderes als in der physischen Medizin, in der bei einem gebrochenen Arm ein Gips angelegt oder bei Schmerzen ein Medikament verschrieben wird. Die psychische Krankheit sei oft nur ein Symptom für ein komplexeres Problem, sagt Sartorius, die auch im Vorstand des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten sitzt.

Sie kritisiert deshalb den neuen Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), mit dem er bewirken will, dass Psychotherapeuten künftig stärkere Vorgaben bekommen, wie sie Patienten bei welcher Diagnose behandeln müssen. Spahn möchte, dass der Gemeinsame Bundesausschuss aus Ärzten, Kliniken und Krankenkassen Regelungen treffen kann, die für Psychotherapeuten "diagnoseorientiert und leitliniengerecht den Behandlungsbedarf konkretisieren". Am Ende, sagt Sartorius, könnte dieser Passus bedeuten, dass Krankenkassen nur dann für eine Therapie bezahlen, wenn die Methoden auch zur Diagnose passen. Also, wenn der Therapeut mit seinem ängstlichen Patienten eine bestimmte Stundenzahl einhält und mit ihm in eine überfüllte U-Bahn steigt. "Es werden neue Hürden eingebaut", sagt sie.

Dabei hatte sich Ariadne Sartorius erst vor vier Monaten gegen solche Hürden gewehrt. Damals musste Spahn eine Neuregelung für psychisch kranke Patienten wieder streichen, nachdem Sartorius dagegen eine Online-Petition gestartet hatte. Es ging um seine Idee, dass bestimmte "Vertragsärzte und psychologische Psychotherapeuten" für die "Behandlungssteuerung" von psychisch kranken Patienten verantwortlich sein sollten. Therapeuten und viele Patienten befürchteten, dass dann eine Art Gutachter entscheiden würde, welcher Patient zum Therapeuten gehen darf und wer nicht. Mehr als 200 000 Menschen unterschrieben, Spahn ruderte zurück.

Sein neuer Vorschlag zum "diagnoseorientierten" Behandlungsbedarf klingt jetzt zwar weniger rigoros. Doch die Formulierung sei nur "ein Wiedergänger des alten Vorschlags des Gesundheitsministers", sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Ernst Dietrich Munz. Dieser sei doch bereits "auf eine breite Ablehnung bei Patienten, Ärzten, Psychotherapeuten und in der Politik gestoßen". Auch die Kammer lehne die neue Regelung "strikt ab".

Auch der Bundesrat spricht sich gegen Spahns Entwurf aus, schon zum zweiten Mal. "Mit der vorgesehenen Regelung besteht die Gefahr, dass zusätzliche Hürden für psychisch kranke Menschen aufgebaut werden und dadurch der Zugang zur Psychotherapie eher noch erschwert wird", heißt es in dem Beschluss. Auch seine erste Gutachter-Idee war bei den Ländern durchgefallen. Die Grünen fordern in einem Antrag, stattdessen regionale Konzepte zu erarbeiten, bei denen Therapeuten besser mit den Sozialarbeitern und Ärzten vor Ort zusammenarbeiten, um Patienten in schwierigen Situationen zu unterstützen. Eine weitere Petition, sagt Sartorius, plane sie aber nicht. Sie will mit Spahn über die Tücken der Diagnosen sprechen.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2019
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