Süddeutsche Zeitung

EU-Gipfel in Brüssel:Merkel hat erreicht, was zu erreichen war

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Mehr war in einer EU, die auf Konsens setzt, nicht drin. Innenminister Seehofer hat eigentlich nur einen Ein-Punkt-Plan: "Ich darf mein Gesicht nicht verlieren."

Kommentar von Kurt Kister

Die EU ist ein höchst heterogener Staatenbund; die wichtigen Entscheidungen werden nach dem Konsensprinzip oder gar nicht getroffen. Die Schwächen dieser komplexen Organisation treten immer dann drastisch zutage, wenn die EU Antworten auf Fragen geben soll, die schon in den Mitgliedsländern nicht gegeben werden können, weil sie Gegenstand heftigster politischer Auseinandersetzungen sind. Staatsverschuldung, Sanktionen gegen Russland oder der Umgang mit Migranten sind Beispiele dafür, dass die Dachorganisation des europäischen Halbkontinents eine Kompromissmaschine sein muss - gerade in Zeiten, in denen in vielen Mitgliedsländern populistische, zumeist rechte Führerfiguren nationalen Aktionismus predigen und damit Mehrheiten bei Wahlen gewinnen.

Angesichts dieser Lage ist die notgedrungen vage gehaltene Gipfel-Einigung in Sachen Migration und Flucht so etwas wie ein Erfolg - jedenfalls in dem Sinne, dass sich Regierungen mit höchst unterschiedlichen Standpunkten auf Richtlinien verständigt haben. Diese Richtlinien setzen deutlich auf Abwehr und Abhaltung. Allerdings hat die EU insgesamt ohnehin nie eine Willkommenspolitik verfolgt.

In so gut wie jedem EU-Staat möchten mittlerweile Mehrheiten der Bevölkerung und der Wähler eine spürbare Begrenzung der Zahl jener, die in Europa ankommen. Das Jahr 2015 hatte dabei einen katalytischen Charakter - nicht wegen der Flüchtlingspolitik Merkels, sondern weil der eskalierende Krieg in Syrien sowie die Konflikte im Irak und in Afghanistan eine bis dahin nicht gekannte Zahl von Flüchtlingen verursachten.

2015 machten die Staaten Mitteleuropas eine Erfahrung, die den EU-Ländern des Südens seit langem bekannt war. Seit den Umbrüchen in Nordafrika und im Mittleren Osten treten Hunderttausende die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer an und landen, wenn sie es schaffen, vor allem in Italien und Griechenland. Beide Länder mussten erleben, dass es mit der Verteilung der Migranten innerhalb der EU, also mit der Solidarität, nicht weit her war. Auch Deutschland berief sich auf die Dublin-Regelung, nach der das jeweilige EU-Land, in dem die Flüchtlinge ankommen, "zuständig" ist.

Dies will jetzt vor allem Italien durchbrechen. Sein Beharren auf geschlossenen "Verteilungszentren" in der EU sowie auf Sammellagern in Nordafrika, die es nicht gibt und vielleicht nie geben wird, hat den Gipfel geprägt, die Drohung mit dem Veto hat gewirkt. So gesehen war der Gipfel ein Erfolg für den von einer populistisch-reaktionären Koalition getragenen Premierminister Giuseppe Conte. Zwar haben die Gesinnungsbrüder Viktor Orbán und Sebastian Kurz Ähnliches gefordert. Dennoch hätte es dieses Ergebnis ohne Conte einerseits und ohne die Kompromissbereitschaft Merkels sowie Emmanuel Macrons andererseits nicht gegeben.

Ja, man darf skeptisch sein

Weil der Umgang mit der Migration Gesellschaften spaltet, reden die einen bei der Bewertung des Brüsseler Treffens vom "Gipfel der Inhumanität" und vom Ende des Asylrechts, während die anderen davon überzeugt sind, dass die "Invasion Europas" weitergeht. Sieht man es weniger polarisiert, haben die sehr unterschiedlichen Mitglieder des Staatenbündnisses in vorletzter Minute einen Kompromiss gefunden. Was er taugt, wird sich daran erweisen, ob die Flüchtlingszentren in der EU nicht nur stacheldrahtbewehrte Internierungslager werden und ob genug Solidarität zur Verteilung der Asylberechtigten besteht. Ja, man darf skeptisch sein. Nein, man sollte nicht von vornherein sagen, das wird alles nichts. Migration ist die Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts und nicht nur die Schicksalsfrage der EU.

In jedem Fall aber sollte Migration jetzt nicht mehr die Schicksalsfrage von CDU und CSU sein. Angela Merkel hat auf dem Gipfel erreicht, was zu erreichen war - und sie hat das selbst in die schönen Worte gegossen, dass die Ergebnisse des Gipfels "mehr als wirkungsgleich" mit den CSU-Forderungen seien. Damit hat sie Horst Seehofer lächelnd eine Ohrfeige gegeben, denn die Formulierung stammt ursprünglich von ihm. Nein, die beiden können nicht mehr miteinander. Aber Merkel ist nach wie vor die Stärkere.

Seehofer wird nun daran arbeiten müssen, mit Nachbarn bilaterale Vereinbarungen über den Umgang mit der sogenannten Sekundärmigration zu treffen, also mit Migranten, die bereits anderswo registriert sind. Auch dies wird in der Gipfelerklärung angesprochen, mit Spanien und Griechenland gibt es bereits Verabredungen.

Die von der CSU ins Spiel gebrachten unilateralen Zurückweisungen wären nach dem Gipfel noch mehr ein Affront gegenüber Ländern wie Österreich oder Italien. Die CSU hat jüngst ein Bild abgegeben, dessen man sich als Bayer eigentlich fremdschämen muss. Der nicht veröffentlichte 63-Punkte-Plan des Innenministers ist real ein Ein-Punkt-Plan und lautet: Ich darf mein Gesicht nicht verlieren. (Allerdings hängt sein Gesicht längst an Markus Söders Garderobenhaken.)

Der Ministerpräsident Söder wiederum trieb den Konflikt ohne Plan voran, er eskalierte ohne Eskalationsstrategie. Was wäre gewesen, wenn die CDU/CSU-Fraktion zerbrochen wäre? Es war nicht einmal eine anständige Verschwörung, schon weil die Hauptverschwörer Söder und Seehofer kaum miteinander reden. Hier waren Schlafwandler am Werk. Die CSU hat zudem etliche CDU-Leute wieder hinter Merkel gebracht, die da vorher nicht mehr standen.

"Wir gegen Merkel" sollte vor allem die Landtagswahl im Oktober absichern. Wie wenig das funktioniert, können Söders Hintersassen an den Umfragen ablesen. Es sei der CSU gegönnt, dass sie sich jetzt für Italien hält und die restriktive Auslegung der Flüchtlingspolitik beim EU-Gipfel für sich reklamiert. Von sofort an aber sollten sich CDU, CSU und SPD wieder ernsthaft dem Regieren widmen. Das fällt dieser Koalition ohnehin schwer genug.

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SZ vom 30.06.2018
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