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Gesetz zur Kopfbedeckung in der Türkei:Ein alter Hut

Für viele war es eine Provokation, für Staatsgründer Atatürk eine Revolution: 1925 wurde der Hut zur Pflicht. Die Partei des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan würde das heute gerne abschaffen. Eingefleischte Kemalisten sind entsetzt - und das, obwohl das Gesetz im Alltag sowieso nicht mehr durchgesetzt wird.

Frederik Obermaier

Der Präsident wurde mit eisigem Schweigen begrüßt. Das Gesicht glatt rasiert, im hellen Sommeranzug, das Hemd am Kragen aufgeknöpft, marschierte Mustafa Kemal am 25. August 1925 durch Kastamonu. Das mittelanatolische Städtchen war schon damals einer der konservativsten Flecken der Türkei, die Menschen störten sich an Kemals westlichem Kleidungsstil, deswegen erwiderten sie auch seine Begrüßung nicht.

"Meine Herren", begann der erste Präsident der Türkei, der sich selbst Atatürk, Vater der Türken, nannte. "Das", sagte er, "das nennt man einen Hut." Er zeigte auf seinen Kopf, dort trug er statt der Fes genannten traditionellen Filzkappe einen Panamahut. Für die Bevölkerung von Kastamonu war es eine Provokation, für Kemal eine Revolution - an ihr knabbert die Türkei noch heute. Denn der Hut wurde Pflicht und die würde die AKP-Partei des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan heute gerne abschaffen. Eingefleischte Kemalisten sind entsetzt.

Ihr Vorbild Kemal Atatürk wollte die Türkei einst modernisieren, er wollte den vermeintlichen Staub der alten Zeiten abschütteln, westlich werden. Also verordnete er seinem Land die metrischen Maße, die lateinische Schrift - und westliche Hüte. Atatürk wollte die Köpfe der Türken lüften, der damals bei türkischen Männern beliebte Fes und der Turban waren für ihn Symbole der Rückständigkeit. Also erließ er das Gesetz mit der Nummer 671, Paragraf 1 läutete die Hutrevolution ein: "Die Mitglieder des türkischen Parlaments sowie alle staatlichen und regionalen Beamten und Angestellten müssen einen Hut tragen, wie er auch vom türkischen Volk getragen wird. Die allgemeine Kopfbedeckung des türkischen Volkes ist der Hut."

Der Hut hat sich nicht durchgesetzt

Innerhalb weniger Tage waren in den größeren Städten die Kalabreser und Bowler ausverkauft, die Kaufleute bestellten eilig Nachschub in Europa. Bis er geliefert wurde, behalfen sich einige Türken mit selbst gebastelten Hüten aus Zeitungspapier. Viele Türken weigerten sich jedoch, ihren Turban abzunehmen - und wurden vom Staat bitter bestraft. Das Militär ging gegen renitente Turbanträger mit Gewalt vor, mehr als 80 Türken wurden hingerichtet. Einige von Atatürks Anhängern erzählten später, der Vater der Türken hätte Dörfer, in denen Turbanträger wohnten, am liebsten bombardieren lassen.

Das ist lang her, acht Jahrzehnte sind seither vergangen. Der Fes ist zum Touristensouvenir verkommen, der Turban fast verschwunden - aber der Hut, so muss man ehrlicherweise auch sagen, hat sich nicht durchgesetzt. Auf Druck der Europäischen Union reformierte die Türkei 2004 das Gesetz. Hutverweigerern und Turbanträgern drohen jetzt nur noch bis zu sechs Monate Haft. Auch das aber nur noch auf dem Papier, im Alltag wird das Gesetz nicht mehr durchgesetzt. Die AKP will die Hutpflicht nun gleich ganz streichen. Gesetze seien schließlich nicht für die Ewigkeit gemacht, sagte jüngst ein Parteisprecher. Mit anderen Worten: Das Gesetz sei ein alter Hut.

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SZ vom 20.11.2012/fzg/bavo
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