Süddeutsche Zeitung

Gesellschaft:Zum Mitsummen

Harald Welzer und Michel Friedman unterhalten sich über die verwirrende Weltlage. Vieles kommt einem bekannt vor.

Von Tanjev Schultz

Zwei Intellektuelle besprechen die Weltlage. Bildung, Umweltschutz, Rechtsextremismus, Europa, die Zukunft der Demokratie. Ein bisschen Corona, natürlich. Michel Friedman und Harald Welzer trauen sich zu allem eine Diagnose zu. Obwohl eines der Kapitel heißt "Wir müssen mehr streiten", sind sich die beiden oft einig, Dissens gibt es eher in Details.

Für links-liberale Ohren ist die Melodie dieses Gesprächsbuches so eingängig wie erwartbar. Man kann sofort mitsummen: Kinder haben keine Lobby. Gerechtigkeit in der Bildung ist wichtig. Die Öffentlichkeit erlebt einen neuen Strukturwandel. Europa ist in einem desaströsen Zustand. Vertrauen ist die Währung der Demokratie, ziviler Streit ihr Sauerstoff. So geht das immer weiter.

Auch wenn man die Inhalte dieser Sätze im Grunde teilt, wächst beim Lesen die Ungeduld. Man hat sie schon zu oft in Talkshows gehört, als dass man sie nun noch in einem Buch lesen müsste, das es weitgehend dabei belässt, alle Themen zu streifen.

Am stärksten ist dieses gedruckte Gespräch da, wo es persönlicher wird. Während es sonst oft ins Phrasenhafte abgleitet, ragen die Passagen, in denen es um den Judenhass und den Rechtsextremismus geht, durch ihren Ernst und ihre Authentizität heraus. Hier wird spürbar, worum es den beiden geht - und warum. Michel Friedman erzählt von seiner Kindheit und dem Antisemitismus im Alltag. Wie seine Mitschüler es vermieden, ihn nach Hause einzuladen. Wie seinem Vater, einem Kaufmann, ein Kunde gönnerhaft sagte: "Ihr Juden, ihr seid geschäftstüchtig. Du auch, da muss ich euch mal ein Kompliment machen." Nach einer schlaflosen Nacht habe er damals als Junge beschlossen, nie zu schweigen und sich zu wehren, sagt Friedman.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hinterfragt den Begriff der "Verdrängung". Womöglich habe es für viele Deutsche nach dem Krieg gar nicht die Notwendigkeit gegeben, etwas zu verdrängen - weil sie ohnehin keine Schuldgefühle gehabt hätten. Der Bogen zur Gegenwart ist schnell geschlagen. "Man muss es persönlich nehmen, wenn die freiheitliche Demokratie angegriffen wird", sagt Welzer. Er plädiert dafür, AfD-Politiker weitgehend zu ignorieren, um die "Konsensverschiebung" zu beenden und eine Normalisierung rechtsextremistischer Positionen zu verhindern. Friedman sagt, er sehe das differenzierter. Jemanden wie Alexander Gauland zu interviewen, gehöre zur journalistischen Aufklärungspflicht.

In Momenten, in denen die beiden nicht übereinstimmen, gewinnt das Buch an Esprit. Die Kultur öffentlicher Erregung wird als Problem identifiziert, Welzer gibt die Losung aus: "Beruhige Dich!" - Friedman: "Ist das nicht das Problem? Dass viel zu viele so beruhigt sind? Ich freue mich auf beunruhigte Menschen!" - Welzer: "Quatsch! Wir brauchen Zeit."

Zwar haben sich Friedman und Welzer für ihr Gespräch Zeit genommen, es inhaltlich aber leider überfrachtet. Vieles wird gesagt, weniges ergründet.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2020
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