Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Deutschland:Warum man Ängste zulassen sollte

Lesezeit: 4 Min.

Die Bilder aus München sind berührend. Aber es gibt auch viele, denen unwohl ist angesichts der Aufgabe, Hunderttausende Flüchtlinge zu integrieren. Ignoriert man sie, werden die Probleme nur größer.

Kommentar von Detlef Esslinger

Das hätte der Münchner Hauptbahnhof, dieses scheußliche Gebäude, auch nicht gedacht, welche Karriere er ein paar Jahre vor seinem Abriss noch machen würde: als Symbol für das freundliche, mitfühlende Deutschland. Jeder, der dabeistand oder es im Fernsehen gesehen hat, musste berührt sein von den Bürgern, die am Seiteneingang Spalier standen und zur Begrüßung klatschten. Wann war den Ankommenden wohl zuletzt eine solche Ahnung von Geborgenheit vermittelt worden?

Jeder, der dabeistand, konnte aber auch andere Töne vernehmen. Man brauchte bloß 30 Meter weiterzugehen, und schon befand man sich neben Passanten, die nicht wegen der Flüchtlinge gekommen waren, sondern lediglich zu ihrem Zug wollten. Einer sagte: "Helfen müssen wir, keine Frage. " Einatmen. "Nur: In 20 Jahren müssen unsere Frauen alle Schleier tragen."

Was für ein Schwätzer.

Oder auch nicht. Ein länger währendes Ereignis durchläuft stets mehrere Phasen. Die Aufnahme der Flüchtlinge und das Kümmern um sie wären nicht möglich ohne eine Phase des puren Idealismus am Anfang. Gibt es zuerst kein Mitgefühl, gibt es danach auch kaum jemanden, der seine Talente aktiviert, um die Flüchtlinge in eine Unterkunft, von einer Unterkunft in eine Wohnung, in einen Deutschkurs, in einen Job zu bringen. Doch mit dem Idealismus des einen Teils der Gesellschaft geht oft die Gefahr einher, den anderen Teil durch Ignorieren zu überfordern.

Beispiel gefällig? "Weiterhin keine Angst vor zu vielen Flüchtlingen", das war am Freitag die Überschrift, unter der die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) über eine Umfrage der ARD berichtete. Deren Ergebnis bestand jedoch darin, dass 61 Prozent der Befragten keine Angst vor zu vielen Flüchtlingen haben - 38 Prozent hingegen sehr wohl.

Sind 38 Prozent denn nichts? Wird denn über Angst neuerdings in Umfragen abgestimmt, wie über Parteien bei einer Wahl, und wenn sich die Angsthaber anschließend als Minderheit erweisen, kann man sie entspannt ignorieren? Mehr als ein Drittel der Deutschen bekennen sich zu ihrer Angst, so kann man die Umfrage doch auch lesen. Es besteht die Gefahr, dass diese Bürger nicht mal wahrgenommen werden.

Das Volk hat noch nie nach den Regeln eines Intellektuellensalons debattiert

Natürlich formulieren viele von ihnen arg simpel oder schräg. "Das Fastenbrechen wird in einigen Bundesländern Feiertag, Gewaltausbrüche zwischen Sunniten und Schiiten werden zunehmen", dieses Szenario für Deutschland malt (ausgerechnet!) der Chefredakteur der KNA aus. Oder: "Wohnraum wurde rationiert, wer Platz hatte, musste Flüchtlinge bei sich aufnehmen", an die Unterbringung der Vertriebenen nach 1945 erinnert ein in der Szene bestens bekannter Fernsehregisseur auf seiner Facebookseite - solche Zustände offensichtlich erneut befürchtend. Aber entwerten solche Gruseleien ihre Urheber?

Das Volk hat noch nie "nach den Regeln eines Intellektuellensalons" debattiert, das haben drei Wissenschaftler des Göttinger Instituts für Demokratieforschung angemerkt, als sie sich in einer Studie mit den vermeintlich schmutzigen Seiten der Zivilgesellschaft befassten. "In Massengesellschaften gehören Emotionen dazu, zuweilen auch entfesselte Leidenschaften."

Es geht nicht darum, jedem Angsthaber beizupflichten. Und niemals darf es darum gehen, den Orbán zu machen. Niemals darf man Menschen ihrer Verzweiflung überlassen, die doch nur aufgebrochen sind, weil sie dem Motto folgen, das in Deutschland die Bremer Stadtmusikanten bekannt gemacht haben: "Etwas Besseres als den Tod findest du überall."

Probleme kann man nicht durch Ignorieren lösen

Es geht darum, dass jeder den Raum für seine Argumente und Befürchtungen braucht; dass die nicht weggewischt werden. Manchmal geht es um praktische Dinge, manchmal um Grundsätzliches. Eltern sorgen sich, wie ihre Kinder künftig unterrichtet werden, wenn Schüler dazukommen, die kaum Deutsch können. Vereinsvorstände fragen, was aus dem Training wird, wenn die Turnhalle noch länger mit Flüchtlingen belegt bleibt. "Man traut sich ja schon gar nichts mehr zu sagen, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden", so zitierte ein Kommunalpolitiker aus dem Münchner Umland dieser Tage eine Klage, die er oft zu hören kriegt.

Und der Satz: "Wenn in diesem Jahr mehr Menschen zuwandern, als hier geboren werden, wirkt sich das auf die kulturelle Statik einer Gesellschaft aus" ist nicht schon deshalb absurd, nur weil Markus Söder ihn gesagt hat. Es hat noch nie funktioniert, über Gefühlslagen, die nun mal da sind, einfach hinwegzugehen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann irrt, wenn er in einer Äußerung wie der von Söder das Schüren von Angst vermutet. Problem lösen durch Problem ignorieren? Damit macht man ein Problem nur größer.

Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, fordern der gesamten Gesellschaft enorme gedankliche Arbeit ab. Deren ängstlicher Teil wird verstehen müssen, dass die Frage "Aufnehmen oder nicht?" wahrscheinlich gar nicht zur Debatte steht. Die Flüchtlinge sind ja entweder da oder auf dem Weg. Und in Orbáns Land auf der Wiese wird kein Christenmensch sie überwintern lassen wollen. Zur Debatte steht fürs Erste in Wahrheit nur, was jeder beitragen kann, um die Aufgabe beherrschbar zu machen.

Aber auch der idealistische Teil der Gesellschaft wird etwas verstehen müssen: dass es nicht reaktionär ist, in den Ankommenden noch etwas anderes zu sehen als eine hundertfünfzigprozentige Bereicherung. Es bringt wenig, Namen wie Boateng, Özil und Khedira zu nennen, nur um auch den letzten Ignoranten zu belehren, dass Deutschland ohne Migrantenkinder kaum Weltmeister wäre. So etwas trägt relativ wenig dazu bei, das Nebeneinander von Syrern, Afghanen und Nigerianern in einem zur Unterkunft umgebauten Bürogebäude so zu organisieren, dass es dort nicht vor lauter Beschäftigungslosigkeit zu Spannungen oder Schlimmerem kommt. Alles fängt damit an, dass jede Seite die andere ernst nimmt. Andernfalls produziert jeder exakt jene Szenarien, vor denen er sich gruselt.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2015
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