Gesellschaft:Nüchtern betrachtet

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Die Armutsdebatte in Deutschland hilft den Armen nicht. Sagt der Generalsekretär der Caritas, Georg Cremer. Er plädiert dafür, den Ton zu mäßigen und akribisch auf die Fakten zu schauen.

Von Guido Bohsem

Fakten haben es derzeit schwer. Egal, wohin man schaut: Die politische Diskussion in vielen Ländern kommt immer öfter ohne die notwendige Grundlage an Wissen und Tatsachen aus. Im US-Wahlkampf beschreiben die Republikaner einen dramatischen Anstieg von Gewaltverbrechen, der mit offiziellen Daten des FBI nicht ansatzweise zu belegen ist. Während der Brexit-Debatte in Großbritannien scheuten sich die Befürworter des Austritts aus der EU nicht, Halbwahrheiten, Gerüchte und sogar Lügen in die Welt zu setzen. Auch in der Diskussion über das Transatlantische Freihandelsabkommen wird mit falschen Annahmen und Behauptungen argumentiert, in der Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik erst recht.

"Doch die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf. Sie stumpfen ab."

All das hat mit einem Vertrauensverlust in ehemals anerkannte Instanzen zu tun. Das Wort von Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und der Wirtschaft gilt deutlich weniger als früher. Und dann geht es nach dem Motto: Wenn man keinem mehr trauen kann, kann man auch gleich das glauben, was man fühlt. Die Aufklärung steckt in einer tiefen Krise. Gefühl ersetzt Erkenntnis.

Manch einer sieht sogar den Anbruch eines postfaktischen Zeitalters am Horizont. In diesen Zeiten sind Beiträge, die in Fakten nur so schwelgen und ein Thema tief und breit auffächern, wichtiger denn je. Mit "Armut in Deutschland" legt Georg Cremer jetzt ein Buch vor, das über diese Ansprüche sogar noch ein wenig hinausgeht. Hier hat sich einer ans Werk gemacht, der das deutsche Sozialsystem und den materiellen Zustand der Nation nicht nur in Zahlen und Gesetzen kennt. Der Generalsekretär der Caritas hat die Not, die es in der Republik gibt, mit eigenen Augen gesehen.

Am Rande der Gesellschaft: Arme Alte und arme Kinder sind eine Realität in Deutschland. Nur die Art der Debatte darüber ändert bisher kaum etwas an den beklagenswerten Tatsachen. (Foto: Catherina Hess)

Was Cremer zu diesem Buch getrieben hat, sind aber nicht vordringlich die Missstände im System, sondern die Debatte über diese Missstände. Denn auch sie wird mit verbogenen Fakten geführt. Manche davon sind derart verbogen, dass sie mit der Wirklichkeit und der Gesetzeslage kaum noch etwas zu tun haben. Dafür aber wird die Tonlage der Auseinandersetzung immer härter und ihre Bissigkeit schärfer.

Letzteres gilt laut Cremer insbesondere für die Ankläger der Armut im reichen Deutschland. Wortführer der Debatte, die aus den Sozialverbänden stammen, aus den Gewerkschaften, der Politik und vor allem auch den Medien. "Diejenigen, die die Auseinandersetzung zur Armut in Deutschland befeuern wollen, greifen zu immer drastischeren Aussagen und Bildern", schreibt Cremer. "Doch die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf. Sie stumpfen ab."

Es sind die Jahre nach der Finanzkrise, die dem Land ein großes Paradox bescherten. Da gibt es zum einen die aktuelle Lage: Das Land erlebt den längsten Wirtschaftsaufschwung seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Arbeitnehmer steigt kontinuierlich. Wären da nicht die Flüchtlinge, die Arbeitslosigkeit würde ebenso sinken. Die jüngsten Lohnrunden waren üppig, und die Wirtschaftskraft steigt auch deshalb, weil die Bundesbürger das zusätzliche Geld investieren und ausgeben.

Auf der anderen Seite warten Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband mit Nachrichten auf, wonach die Armut in Deutschland noch nie so hoch war wie heute. Deutschland sei ein tiefzerklüftetes Land, geprägt von regionaler Verelendung. Die Medien, mitunter auch die Süddeutsche Zeitung, befeuern dieses Bild und konstatieren, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, die Ungleichheit wächst.

In seinem Buch entschlüsselt Cremer dieses Paradox, in dem er genau hinschaut, Begriffe klärt, Statistiken einordnet, Bezüge herstellt und auch die weitere Vergangenheit berücksichtigt. Nüchtern und dennoch schwungvoll erklärt er die gängigen Definitionen von Armut und beharrt dabei auf Präzision. Er legt dar, warum es einen großen Unterschied macht, wenn man statt von "arm" von "armutsgefährdet" spricht, wenn es um die Ergebnisse der geläufigsten Armutsdefinition geht, nach der davon betroffen ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt.

Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? Verlag C. H. Beck München 2016. 271 Seiten, 16,95 Euro. (Foto: N/A)

Er warnt davor, die unterschiedlichen Statistiken zur Armutserfassung zu vermengen und plädiert, eine feinere Unterteilung zu unternehmen - etwa in "starke (relative) Armut", "Armut" und "armutsgefährdet". Auch dürfe man die 60-Prozent-Regel nicht zum einzigen Maßstab machen. Ansonsten könnte es so gehen wie in Griechenland, wo das mittlere Einkommen zwischen 2009 und 2017 um 37 Prozent sank, die Armutsrisikoquote aber nahezu konstant blieb. Massive Einkommenseinbrüche und keine höhere Armutsgefährdung - wie kann das sein? "Die Erklärung ist einfach", schreibt Cremer. Weil alle Einkommen deutlich sanken, ergab sich auch eine deutlich niedrigere Schwelle zur Armutsgefährdung. Schaut man also nur auf diese Statistik, müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass sich die Lage in Griechenland nicht verändert hat.

Der Autor verharmlost die Zustände nicht. Die Hartz-IV-Sätze müssten 60 Euro höher sein

Mit großer Akribie knöpft sich Cremer dann alle Themen vor, die an das Thema Arbeit anknüpfen. Die Einkommensungleichheit, die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die Mittelschicht, die Rente und vor allem Hartz IV. Hier kommt Cremer zu dem seltenen und überraschenden Urteil, dass Hartz IV besser ist als sein Ruf, weil es auf richtigen Prinzipien beruhe. "Man muss immerhin zur Kenntnis nehmen, dass es 2005 gelang, den seit Mitte der 1970er-Jahre anhaltenden Trend der ansteigenden Arbeitslosigkeit zu bremsen." Zu kritisieren sei allerdings die Höhe der Bezüge, die durch abenteuerliche und von Cremer genau nachgezeichnete Statistiktricks nach unten gedrückt worden ist. 60 Euro höher müsste Hartz sein.

Das heißt nicht, dass Cremer die Zustände im Land verharmlost. Präzise und deutlich weist er auf das Schicksal der Wohnungslosen hin oder der Illegalen oder auf Menschen, die zu stolz sind, aufs Amt zu gehen, und deshalb in verdeckter Armut leben. Er führt den statistisch sauberen und bedrückenden Nachweis, dass arme Menschen kränker sind und kürzer leben.

Wie kann man helfen? Was soll die Politik tun? Cremer nennt hier eine ganze Fülle von Instrumenten. Zentral aber ist etwas, was er Befähigung nennt. Wer etwas lernt, erhöht seine Chancen in der Gesellschaft. Wer sich nicht verstecken muss, hat die Chance aufs Mitmachen. Vor allem aber ruft Cremer in diesem lesenswerten Buch dazu auf, im Kampf gegen die Armut den Ton zu mäßigen und sich stattdessen auf die Fakten zu stützen. Sie sind aussagekräftig genug. Wer vor der nächsten Bundestagswahl sachlich mitdiskutieren und nicht auf die Halbwahrheiten der Wahlkämpfer von links bis rechts hereinfallen will, sollte sein Buch lesen.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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