Süddeutsche Zeitung

Montagsdemonstration:"Mit Hartz IV halten sie uns klein"

Eisenhüttenstadt ist die gescheiterte Utopie des Sozialismus. Jeden Montag protestiert hier ein Grüppchen gegen die Folgen von Schröders Agenda 2010 - seit 663 Wochen.

Reportage von Ulrike Nimz, Eisenhüttenstadt

Wenn Torsten Lohs durch die Straßen läuft, sieht er Dinge, die nicht da sind. Kein Stau, kein Lärm, keine Schlange beim Eismann. Kein Marktplatz, kein Postkartenmotiv, kaum Kinder, nicht mehr. Lohs trägt ein kariertes Hemd, darüber eine knarrende Lederjacke, sie macht ihn breiter. Er kennt hier jeden Häuserblock und jede Lücke, wo früher einer stand. Die Stadt ist ja kaum älter als er. "Dit is die Lindenallee, und da hinten is das Eko", sagt Lohs und zeigt auf die Schlote, die sich in den Himmel bohren. Die Straße läuft auf das Stahlwerk zu wie ein Förderband aus Asphalt.

Lohs hat heute keine Schicht, muss nicht um Mitternacht aufstehen oder im Morgengrauen heimkommen. Nicht an der Produktionsstraße stehen und kontrollieren, ob die endlose Welle von Blech richtig geglättet, geschnitten, geölt wird. So ein freier Tag kann schön sein. "Aber wer ist schon frei?", sagt Torsten Lohs.

Es ist Montag in Eisenhüttenstadt, und montags trifft Lohs seine Mitstreiter. Er sagt Mitstreiter, nicht Freunde, obwohl er die meisten nun schon lange kennt. Sieben Stufen führen hinauf zum Friedrich-Wolf-Theater, davor stehen sieben Menschen mit einem Transparent: Montagsdemo Eisenhüttenstadt steht da. Und: "Betrüger, Räuber, Dilettanten" - BRD.

Nur noch 30 000 Menschen leben im größten Flächendenkmal Deutschlands

Weg mit Hartz IV, weg mit der Agenda 2010, das haben sie Eisenhüttenstadt zum ersten Mal am 16. August 2004 gefordert. Die Nachrichtenlage an jenem Tag: Der Umsatz der deutschen verarbeitenden Industrie ist überraschend stark gestiegen (14,9 Prozent). Die Zahl der Beschäftigten gesunken (2 Prozent). Sinken soll auch der Spitzensteuersatz (von 45 auf 42 Prozent). In "Hütte", wie sie hier sagen, blockierten 1200 Menschen die Lindenallee.

1989 brachten die Montagsdemos in Leipzig und dem Rest der DDR ein ganzes System zu Fall. Mit ähnlichen Zielen gingen bundesweit Tausende auf die Straße, als Kanzler Gerhard Schröder 2003 umfassende Arbeitsmarktreformen ankündigte. Bis heute stehen in einigen Städten versprengte Grüppchen und fordern ein Ende des "Sozialabbaus", selten so ausdauernd wie in Eisenhüttenstadt. Das mag auch daran liegen, dass das Wörtchen "wie" in Eisenhüttenstadt selten funktioniert.

Die Stadt ist einzigartig, ein gescheitertes Experiment. Aus dem Boden gestampft als Wohnstadt für die Arbeiter des Eisenhüttenkombinats Ost, jünger noch als Salzgitter oder Wolfsburg, ein Metropolis nach sowjetischem Muster. 1950 fiel die erste Kiefer, ein Jahr später entstanden die ersten Wohnkomplexe - neoklassizistische Arbeiterpaläste mit Arkaden und Säulen. Die Wohnungen mit Parkettböden und Fernwärme. Die Innenhöfe so groß wie der Traum vom besseren Leben. Vor allem junge Familien zog es in den komfortablen Schatten des Eko. Das Werk sieht aus, als hätte ein Irrer die Baupläne des Centre Pompidou in die Finger bekommen. Heute gehört es dem größten Stahlkonzern der Welt: ArcelorMittal. Von ehemals 12 000 Mitarbeitern durften 2500 bleiben. Geblieben sind auch Probleme: Arbeitslosigkeit, Abriss und das, was Statistiker Sterbeüberschuss nennen. Die Einwohnerzahl Eisenhüttenstadts hat sich seit der Wende halbiert. Dass sie zuletzt wieder gestiegen ist, liegt vor allem am Zuzug von Flüchtlingen.

Noch 30 000 leben im größten Flächendenkmal Deutschlands. Einen Zombiekurzfilm haben sie hier gedreht, immer wieder DDR-Stoff. Sie drehen so oft Filme, dass sich die Eisenhüttenstädter manchmal vorkommen müssen wie Statisten. 2011 ist Tom Hanks zu Besuch gewesen. Später, bei Letterman, sprach aus ihm die Begeisterung des Museumsbesuchers: so viel Zement und die Straßen so weit in "Iron Hut City". Der Tourismusverein ließ Shirts und Kaffeebecher bedrucken. Das Beste, was dieser Stadt in letzter Zeit passiert ist, ist eine fragwürdige Übersetzung.

Torsten Lohs' lebt im Wohnkomplex V, zwischen dem Platz der Jugend und dem Altenheim. Vor der Tür stehen noch Straßenleuchten aus der DDR, Typ RSL 1. Er hat ein Zimmer unter dem Dach, dunkle Möbel und ein großes CD-Regal, viel Punk, Tocotronic, der "Bandits"-Soundtrack.

Lohs ist keiner, der seine Freizeit vertrödelt. Er fährt Fahrrad, er läuft, Halbmarathon. Ausdauer war nie sein Problem. Ende 2015 hat er sich vier Wochen freistellen lassen, um ein Gesundheitszentrum im nordsyrischen Kobanê aufzubauen. Die Organisation, die diese Hilfseinsätze koordiniert, taucht im Verfassungsschutzbericht auf. Für die Behörden ist einer wie Lohs ein Linksextremist. Einer wie Lohs sagt, er sei doch nur menschlich. Gebückt steht er in der engen Wohnküche und kocht Kaffee. Wer draußen eine Stunde lang ein Schild hochhält, braucht Kaffee. Wer das über Jahre tut, braucht - ja, was? Wie steckt man weg, dass um einen herum die Stadt schrumpft, Leute wegziehen, wegbleiben, weggucken?

Es gibt ein Foto von Torsten Lohs, es zeigt ihn in einem übergroßen T-Shirt. Darauf ist in ungelenken Buchstaben "Weg mit Hartz IV" geschrieben, so wie Punks das manchmal mit den Namen ihrer Lieblingsbands tun. "Vielleicht hätt ich in meiner Jugend politischer sein sollen, vielleicht hab ich was verpasst", sagt Lohs. Vielleicht hätte er etwas sagen sollen, als sie beim Militär einen Kameraden wegbrachten, weil der im Suff dem Kompaniechef blöd gekommen war. Vielleicht nachfragen, als er nach seiner Rückkehr kein Wort mehr sprach. Vielleicht hätte er sich freuen sollen, als die Mauer fiel. "Hab ich aber nicht", sagt Lohs. Vielleicht kämpft er deshalb einen Kampf, der gar nicht seiner ist.

Torsten Lohs, 50, hat nie Hartz IV bekommen. Im Gegensatz zu Eisenhüttenstadt ist seine Erwerbsbiografie lückenlos. Seine Rente soll mal 1300 Euro betragen. Und wenn sie Hütte bis dahin abreißen, dann wird er weiterziehen, in einen der Nachbarorte, die hier so oft sprechende Namen tragen, Müllrose oder Siehdichum.

"Hartz IV hat einen Keil zwischen uns getrieben, zwischen Arbeiter und Arbeitslose", sagt Lohs. "So halten sie uns klein." Seine Stimme ist jetzt leise, mit dem Tremolo der Verachtung. Die Schichtarbeit geht ihm auf die Knochen. Die Gewerkschaft nicht weit genug. Und wenn er im September wählen geht, dann bestimmt nicht SPD. "Martin Schulz fordert mehr Gerechtigkeit. Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus? Meine Idee von Gerechtigkeit ist sicher eine andere als seine."

Es gibt Pampahasen und Diamantfasane in Eisenhüttenstadt, aber kaum noch feste Jobs

Noch ist die SPD stärkste Kraft in der Stadt, die Bürgermeisterin eine Linke. Aber bei der Landtagswahl 2014 erzielte die AfD mit 21,3 Prozent ihr bestes Ergebnis im Wahlkreis Oder-Spree II. "Die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden ist nicht mehr rot", schrieb die Berliner Zeitung nach dem Wahltag. Es fährt kein Schulzzug von Würselen nach Hüttenstadt. Nur die Deutsche Bahn - mit fünf Mal Umsteigen.

Torsten Lohs will mit den Rechten nichts zu tun haben. Auf seinem Transparent steht schließlich schon viel länger: "Wir sind das Volk! Nehmt euch in Acht!" Seit 663 Montagen, um genau zu sein.

Vor dem Theater ist jetzt Musik zu hören. Sie weht die Lindenallee hinunter bis zum Café "C'est la vie". Ein Mann spielt Gitarre, eine Frau singt dazu. Von weitem sieht es aus, als lehnten sie aneinander. Christine Reinwald und Werner Scholz sind ein Paar. Sie haben sich auf der ersten Montagsdemo kennengelernt. Über die Jahre sind so etwas wie die Hütte-Version von Bob Dylan und Joan Baez geworden. Eines ihrer Lieder geht so: Sie stehen bei Wind oder Regen / Sie halten mit Kraft ganz verwegen / die Losung, die alle gut sehn / die montags vorm Theater stehn.

Werner Scholz war in seinem Leben schon Schlosser, Funker, Eisenbieger, Zimmerer, Schweißer. Mit 14, erzählt er, mussten sie ihn auf ein Podest stellen, damit er den Schraubstock erreichte. Heute macht ihm sein Rücken zu schaffen und ein Rentenabschlag von elf Prozent. Christine Reinwald arbeitet beim Roten Kreuz. Früher stand sie oft direkt am Hochofen. Als sie nach der Wende ihren Job im Eko verlor, ergriff sie Maßnahmen, um nicht zu Hause zu sitzen: mit Kindern Sport machen, mit Kindern Dinge aus Klopapierrollen basteln, Kinder durch das Tiergehege führen. Alle haben in dieser Zeit etwas gelernt: Es gibt Pampahasen und Diamantfasane in Eisenhüttenstadt, aber kaum noch feste Jobs.

Scholz und Reinwald haben keine gemeinsame Wohnung, Heirat steht nicht zur Debatte. Beim Jobcenter heißen Liebende, die zusammen leben, Bedarfsgemeinschaft, Beziehungsstatus: kompliziert. Jetzt sind sie Torsten Lohs' Mitstreiter am Vorabend der Revolution. Es eint sie nicht viel, außer ein Ziel: in einem Land zu leben, wo die Menschen nur 30 Stunden die Woche arbeiten müssen, mit 60 in Rente gehen und ein Bürgergehalt von 1400 Netto bekommen. Eisenhüttenstadts Montagsdemonstranten, aufgewachsen inmitten einer steinernen Utopie, können das träumen nicht lassen.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2017/doer
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