Als sich Alice Weidel im Wahlkampf mit dem neuen AfD-Anhänger Elon Musk im Livestream traf, konnten die beiden nicht auseinandergehen, ohne noch über Hitler zu sprechen. Der, so sage ja schon der Name Nationalsozialismus, sei eigentlich ein Linker, ein Sozialist und Kommunist gewesen. Wer das nicht glaube, der müsse sich nur die Verstaatlichungspolitik von Unternehmen anschauen. Die Mär von den linken Nazis ist nicht neu. Neu ist, dass der reichste Mann der Welt und die Spitzenkandidatin der nun zweitgrößten Bundestagsfraktion sie vor der Weltöffentlichkeit ausbreiten. Mit dem Schwinden der Gatekeeper sind die Geschichte und ihre Interpretation Freiwild geworden: Die extreme Rechte wusste schon immer um ihre Bedeutung, jetzt sieht sie ihre Stunde gekommen.
Um ein Licht auf die unterschiedlichsten Bemühungen zu werfen, Geschichte umzudeuten, haben Jens-Christian Wagner und Sybille Steinbacher den Sammelband „Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland“ herausgegeben. Geschichtsrevisionismus, so die Autoren in ihrer Einleitung, gehöre zum „ideologischen Kernbestand“ des rechtsextremen Denkens. Dass beide in diesem Feld einige Expertise mitbringen, zeigt nicht nur ihr akademischer Werdegang, sondern auch ihr Engagement für die deutsche Gedenkkultur: Wagner ist Leiter, Steinbacher Vorsitzende des wissenschaftlichen Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora. Die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihre Orte sind Ziel der Rechten für revisionistische Attacken, daher plädieren beide auch ganz explizit dafür, diesen Kampf aus den Gedenkstätten heraus zu führen.
Schon die Nazis entwickelten Opfermythen
Den Gegenstand absteckend, sortiert sich der Band in drei Abschnitte, die Formen, Felder und die Ideologie des Geschichtsrevisionismus betrachten. Herausgeber Wagner ist es, der in seinem Einführungstext deutlich macht, dass es der Nationalsozialismus selbst war, der die propagandistischen Mythen säte, die andere dann nach dem Krieg ernteten: Von der angeblichen jüdischen Kriegsschuld, über den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz bis hin zur Goebbel’schen Ausschlachtung des Morgenthau-Plans haben die Nationalsozialisten Opfermythen entwickelt, die nach der Kriegsniederlage nur noch an Attraktivität gewannen. Damit ist auch markiert, was dem Revisionismus zu eigen ist: Die Gegenwart ist immer schon damit beschäftigt, Parallelerzählungen ihrer selbst zu bilden, die andere später aufgreifen.
Der Revisionismus kennt dabei viele Gesichter, in seiner extremen Form die Leugnung historischer Fakten. Der Band stellt zentrale Figuren der Holocaustleugner-Szene vor, wie zum Beispiel den französischen Kommunisten Paul Rassinier, der selbst in Buchenwald inhaftiert war und nach dem Krieg eine Karriere daraus gemacht hat, die Massenermordungen in den KZs zu leugnen. Oder aber den Hamburger Finanzjuristen Wilhelm Stäglich, der mit seinem 1979 erschienenen Buch „Der Auschwitz-Mythos“ immer noch ein zentraler Bezugspunkt der Szene ist. Das Vorgehen ist dabei immer gleich, wie Wagner betont: „selektive Quellenauswahl, selbstreferenzieller Anmerkungsapparat und die verschwörungsideologische Behauptung, wichtige Dokumente seien von den Amerikanern bis heute für die Forschung gesperrt“.
Vom „Vogelschiss“ zum „Bomben-Holocaust“
Wer so weit nicht gehen möchte, der relativiert und deutet um: Ein „Vogelschiss“ sei der Nationalsozialismus gemessen an der langen deutschen Geschichte gewesen, so einst Alexander Gauland. Auch der berühmt gewordene Ausspruch des NPD-Politikers Holger Apfel vom „Bomben-Holocaust“ setzt etwas in eine Gleichung, wo es sich verbietet. Doch wozu die Rückzugsgefechte? Ein Projekt der Neuen Rechten ist es schon lange, die Deutschen von dem zu befreien, was etwa Armin Mohler als „Nationalmasochismus“ bezeichnet hat. Maik Tändler zeichnet die Karriere dieses rechten Kampfbegriffs in seinem lesenswerten Aufsatz nach und zeigt, wie ein zentrales Projekt der Neuen Rechten seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist, die deutsche Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur als eine Form der moralischen Selbstgeißelung zu verunglimpfen, die die Bundesrepublik daran hindere, wieder zu sich selbst zu kommen.

Wer wissen will, wie ernst es dem Rechtsextremismus damit ist, der muss gelegentlich nach Schnellroda blicken. Dort, so schildert Volker Weiß in seinem Aufsatz, hielt der geistige Führer der Rechten, Götz Kubitschek, im September 2023 bei der Sommerakademie des „Instituts für Staatspolitik“ eine Rede, in der er die Sehnsucht nach einer „zweiten Geburt“, wie sie die Neue Rechte immer wieder formuliert hat, aufgriff. Angestrebt wird ein moralischer Schuldenschnitt, dazu muss aber erst der Bürgerkrieg gewonnen werden, auf den Kubitschek sein Publikum einschwor: „In Deutschland tobt ein geistiger Bürgerkrieg. Es geht um die Vorherrschaft auf medialem, sprach- und geschichtspolitischem Feld, um Deutungshoheit um den Markenkern einer großen Nation.“

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Ihm dabei zur Seite stehen bedeutende Kräfte in der AfD, vor allem Björn Höcke und der zwischendurch in Ungnade gefallene, mittlerweile aber wieder rehabilitierte Maximilian Krah, der jungen Leuten auf Tiktok erklärt, dass ihre Vorfahren keine Verbrecher waren. An ihm und anderen ist exemplarisch zu beobachten, dass mit dem immer lauter werdenden Revisionismus auch die Betonung der Männlichkeit an Lautstärke gewinnt. Oder wie Krah sagen würde: „Echte Männer sind rechts“. Die meisten dieser Figuren sind mittlerweile ihre eigenen kleinen Medienunternehmen, daneben gibt es aber natürlich auch immer noch, wie der Historiker Justus H. Ulbricht erklärt, die klassischen Medien, die revisionistische Schützenhilfe leisten. Eine der traditionsreichsten ist dabei die Junge Freiheit; Publikationen wie Compact oder der Deutschland-Kurier vervollständigen das Bild.
Mangelnde analytische Schärfe in einigen Aufsätzen
Wer Wagners und Steinbachers „Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland“ einmal durchschritten ist, wird mit einem lexikalischen Übersichtswissen über die extreme Rechte wieder herauskommen, was der große Verdienst des Sammelbands ist. Leider erkaufen sich einige Aufsätze die Vogelperspektive mit fehlender analytischer Schärfe. Mehr Mut zum kleinen Teilaspekt, der auf die große Leinwand gezogen wird, hätte einem Band gutgetan, der sich manchmal zu sehr als Infobroschüre versteht. Wer den Krieg, auch den Informationskrieg, gewinnen möchte, der wird sich mit ein bisschen mehr Verve in die Schlacht werfen müssen. Es ist aber gut und wichtig, dass der geworfene Fehdehandschuh hier aufgenommen wird.
Gerrit ter Horst ist Literaturwissenschaftler und Historiker. Er lebt in Berlin und ist freier Autor.