Geschichtspolitik in der Ukraine:Good Bye, Lenin!

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Charkiw Ende September 2014: Unter dem Jubel Tausender Menschen stürzen nationalistischer Ukrainer in der ostukrainischen Stadt die größte Lenin-Statue. Die Skulptur war vor 50 Jahren errichtet worden und etwa 20 Meter hoch. (Foto: Reuters)

Für die Ukrainer symbolisiert der Kommunist Lenin die Machtallüren der Russen, die sich nach Sowjetzeiten sehnen. Deshalb stoßen sie die Statuen des Revolutionärs vom Sockel.

Von Frank Nienhuysen

Bald ist auch Komsomolsk dran, eine dieser ukrainischen Industriestädte, die in den Sechzigerjahren erst entstanden. Benannt nach der sowjetischen Jugendorganisation. Lenin durfte da natürlich nicht fehlen. Lenin durfte nirgendwo fehlen im Sowjetimperium, auch in der Ukraine nicht. Doch demnächst wird das Denkmal abgerissen.

Die Administration des Gebiets Poltawa zum Beispiel geht gründlich vor, auch wenn sie ihren Plan bisher nicht ganz einhielt. Dieser Plan ist in einem Dokument der Gebietsadministration festgehalten: die Demontage aller Lenin-Denkmäler im gesamten Poltawa-Gebiet, der optischen Erinnerungen an "die totalitäre Ideologie". Bis zum 24. November, dem ukrainischen Gedenktag an das Massensterben durch Hunger in Stalins Dreißigerjahren, sollten alle abgebaut sein. Etwa hundert stehen noch, heißt es in der Gebietsverwaltung, und man kann sich fragen, ob diese Restzahl nun eindrucksvoller ist oder doch eher jene von bereits mehr als 120 Statuen, die tatsächlich abgeschraubt wurden.

Die Trennung von der eigenen Geschichte ist offenbar ein langwieriger Prozess, wenn sie von oben verordnet wird. Hier und da gab es im Poltawa-Gebiet auch Proteste, in den Gemeinden wurde lange beraten. Es zieht sich etwas. So homogen ist die Ukraine nun mal nicht.

"Lenin? Lasst ihn fallen. Solange keine Menschen verletzt werden."

Die systematische Demontage in Poltawa, gelegen zwischen Kiew und dem ostukrainischen Charkiw, unterscheidet sich von den brachialen Stürzen, die den russischen Revolutionsführer mehr oder weniger spontan getroffen haben. In Kiew wurde Lenin schon vor einem Jahr vom Sockel gezogen.

In Charkiw traf es im Spätsommer gleich mehrere Denkmäler, nachdem der Gouverneur ihnen den Status eines historischen Monuments entzogen hatte. Eines war mehr als 20 Meter hoch, bevor es im Jubel Tausender Demonstranten krachend zu Boden schlug. Der Gouverneur sagte dann noch, er hätte es bevorzugt, wenn das Denkmal etwas sicherer und professioneller abgetragen worden wäre.

So ging es weiter, und die russischen Medien berichteten davon wie von einer unheimlichen Einbruchserie: In einer Oktobernacht fiel Lenin viermal in drei Orten - in Krasino, in Kudaschewo, in Schowtnewoje. "Die an den Ort herbeigeeilten Milizionäre entdeckten, dass die Sockel vollkommen zerstört waren", heißt es in einem der Berichte.

Innerhalb eines Jahres wurden etwa 300 Lenin-Denkmäler abgerissen, mal spontan, mal doch eher geplant von ukrainischen Nationalisten. Die Politik nahm es in vielen Fällen zur Kenntnis. Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow sagte vor ein paar Monaten in einem Facebook-Eintrag: "Lenin? Lasst ihn fallen. Solange keine Menschen verletzt werden." Etwa 2000 Lenin-Skulpturen stehen in der Ukraine noch, von bis zu 6000, die es einst gab. Aber eine große Zukunft dürften auch die verbliebenen wohl nicht mehr haben.

In Russland, vor allem in der Provinz, bleibt Lenin noch immer Teil der Städtearchitektur. Er ist einfach da, so wie das Rathaus, und schon die starke Partei der russischen Kommunisten würde nie auf die Idee kommen, ihn widerstandslos fallen zu lassen. Nicht einmal der Kreml traut sich, den Bolschewistenführer anzutasten. Obwohl die Skulpturen, so der lettische Professor Sergei Kruk von der Universität Riga, "den radikalen Bruch mit der zaristischen und religiösen Vergangenheit markieren sollten", während Moskau ja gerade wieder verstärkt auf die Religion zurückgreift. Seit zwei Jahrzehnten wird immer wieder in Wellen über eine Umbettung des Leichnams aus dem Mausoleum am Roten Platz debattiert, und über eine Bestattung, so wie Lenin selber es gewünscht hatte und die Mehrheit der Russen es auch für angemessen hielte. Am Ende will es offenbar niemand sein, der es durchsetzt.

Anders in den früheren Sowjetrepubliken. In Narva etwa, der estnischen Zwillingsstadt direkt an der russischen Grenze, steht Lenin heute versteckt auf dem Areal einer historischen Festung, in die Ecke gestellt, kaum sichtbar, weil von zwei Seiten von einer hohen Mauer umgeben.

Die Balten haben sich schon lang verabschiedet von Lenin. In der Ukraine wird seine Demontage nun ebenfalls zum Symbol für eine politische Zeitenwende, für die Abwendung von der sowjetischen Epoche, in der die Ukraine abhängig war vom Zentrum in Moskau. Mit der Massenentfernung der Lenin-Monumente beteiligt sich das Poltawa-Gebiet symbolisch an der neuen Geschichtsschreibung, so wie sich Spontan-Radikale vermutlich für einen Moment als Revolutionäre fühlen, wenn sie eine Schlinge um Lenins Oberkörper legen und mit Hurra anziehen.

Lew Kerbel, einer der wichtigsten Bildhauer in der sozialistischen Kunst, sagte einmal, dass seine Skulpturen die "Standhaftigkeit, Sicherheit und Visionen der Zukunft" versinnbildlichen sollen. Der New York Times erzählte Kerbel einmal, wie Staats- und Parteichef Leonid Breschnjew "zehn Lenins bestellte, und immer, wenn er irgendwo hinging, übergab er einen. Er bezahlte gut, 200 Rubel für jeden." Damals war das noch viel Geld. Aber Kerbel hat auch erlebt, wie seine Artefakte später zerstört wurden.

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Die "Aurora" kämpfte im Ersten Weltkrieg, die Deutschen versenkten sie im Zweiten Weltkrieg, dazwischen feuerte das Kriegsschiff den Startschuss für Lenins Oktoberrevolution ab. Nun verließ der legendäre Kreuzer seinen "ewigen Ankerplatz" in Sankt Petersburg, um auf Vordermann gebracht zu werden.

Nach den baltischen und den kaukasischen Staaten wie Armenien und Georgien hat die Welle nun die Ukraine erreicht. Sie wäre vielleicht ausgeblieben, hätte das Land sich nicht deutlich zu West oder Ost bekennen müssen. So wurde Lenin für viele zum Zeichen für die Zollunion, für ein enges Bündnis mit Russland, ein Zurück in die sowjetische Vergangenheit, für die Entfernung von Europa und seinen demokratischen, rechtsstaatlichen Werten.

An den Denkmälern und ihrem Abriss, aber auch dem Kampf für ihr Fortbestehen, zeigt sich die Auseinandersetzung in der Ukraine zwischen Linken und Rechten, zwischen jenen, die aus Angst vor der Zukunft Veränderungen scheuen, und denen, die den Aufbruch wollen. Der Kampf dauert an, auch deshalb ist im Poltawa-Gebiet der Plan noch nicht erfüllt.

© SZ vom 29.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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