Geschichte von Haiti:Napoleons Schmach

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Das Portrait von 1791 zeigt Haitis Nationalhelden François-Dominique Toussaint L'Ouverture. Er war einer der Anführer der Revolution in Haiti und Autor der ersten Verfassung. (Foto: Foto: Getty)

Die Wurzeln des Elends liegen in der Vergangenheit. Haiti bezahlt immer noch für seine Befreiung vor 200 Jahren. Auch damals nahmen die Wichtigen der Welt den Insel-Staat nicht ernst.

Andrian Kreye

Am vergangenen Wochenende schickte der britische Architekt und Gründer der Organisation Architecture for Humanity eine atemlose, verzweifelte E-Mail an seine Freunde und Unterstützer. "Nicht Erdbeben, sondern Gebäude töten Menschen" schrieb er in die Betreffzeile.

Damit brachte er auf den Punkt, was auch der Geologe und Autor Simon Winchester oder der Urbanist Mike Davis immer wieder geschrieben haben - es gibt keine Naturkatastrophen. Es gibt nur gewaltige Naturereignisse, die tödliche Folgen haben.

Die Konsequenz aus dieser Schlussfolgerung ist die Schuldfrage. Einfach lässt sie sich beantworten: Gier und Korruption sind fast immer die Auslöser einer Katastrophe. In Haiti aber liegen die Wurzeln der Tragödie tief in der Geschichte des Landes.

Diese begann nach europäischer Rechnung im Jahre 1492, als Christopher Kolumbus auf der Insel landete, die ihre Ureinwohner Aytí nannten. Kolumbus benannte die Insel in Hispaniola um und gründete mit den Trümmern der gestrandeten Santa Maria die erste spanische Kolonie in der Neuen Welt. Ende des 17. Jahrhunderts besetzten französische Siedler den Westen der Insel, den Frankreich 1691 zur französischen Kolonie Sainte Domingue erklärte.

Ideale der Französischen Revolution

Gut hundert Jahre währte die Herrschaft der beiden Kolonialherren über die geteilte Insel. "Saint Domingue war die reichste europäische Kolonie in den Amerikas", schrieb der Historiker Hans Schmidt. 1789 kam fast die Hälfte des weltweit produzierten Zuckers aus der französischen Kolonie, die auch in der Produktion von Kaffee, Baumwolle und Indigo Weltmarktführer war.

450000 Sklaven arbeiteten auf den Plantagen, und sie erfuhren bald vom neuen Geist ihrer Herren. Die Französische Revolution brachte die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Karibik. Im August 1791 war es so weit. Der Voodoo-Priester Dutty Boukman rief während einer Messe zum Aufstand.

Einer der erfolgreichsten Kommandeure der Rebellion war der ehemalige Sklave François-Dominique Toussaint L'Ouverture, nach dem heute der Flughafen von Port-au-Prince benannt ist. 1801 gab Toussaint dem Land seine erste Verfassung, die gleichzeitig eine Unabhängigkeitserklärung war.

Für Napoleon sollte Haiti eine Schmach bleiben.

Daraufhin sandte Napoleon Bonaparte Kriegsschiffe und Soldaten. Toussaint wurde verhaftet und nach Frankreich gebracht, wo er im Kerker starb. Doch als Napoleon im Jahr darauf die Sklaverei wieder einführen wollte, kam es erneut zum Aufstand.

Verzweifelt baten die französischen Truppen im Sommer 1803 um Verstärkung. Da aber hatte Napoleon schon das Interesse an der Neuen Welt verloren. Im April hatte er seine Kolonie Louisiana an die Nordamerikaner verkauft, ein Gebiet, das rund ein Viertel des Staatsgebietes der heutigen USA umfasste.

Für Napoleon sollte Haiti eine Schmach bleiben. Am 1. Januar 1804 erklärte der Rebellenführer Jean-Jacques Dessalines, die ehemalige Kolonie heiße nun Haiti und sei eine freie Republik. Der erste und bis zur Abschaffung der Sklaverei einzige erfolgreiche Sklavenaufstand der Neuen Welt war ein Schock für die Großmächte der Kolonialära, die ihren Reichtum auf der Sklaverei gegründet hatten.

Ein Handel, der die Geschichte Haitis bis heute bestimmt

Die Freiheit hatte ihren Preis. Ein Großteil der Plantagen war zerstört, ein Drittel der Bevölkerung Haitis den Kämpfen zum Opfer gefallen. Vor allem aber wollte keine Kolonialmacht die junge Republik anerkennen. Im Gegenteil -die meisten Länder unterstützten das Embargo der Insel und die Forderungen französischer Sklavenherren nach Reparationszahlungen.

In der Hoffnung, als freie Nation Zugang zu den Weltmärkten zu erhalten, ließ sich die neue Machtelite Haitis auf einen Handel ein, der die Geschichte der Insel bis heute bestimmt.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Sieg der Rebellen entsandte König Karl X. seine Kriegsschiffe nach Haiti. Ein Emissär stellte die Regierung vor die Wahl: Haiti sollte für die Anerkennung als Staat 150 Millionen Francs bezahlen. Sonst würde man einmarschieren und die Bevölkerung erneut versklaven. Haiti nahm Schulden auf und bezahlte.

Bis zum Jahre 1947 lähmte die Schuldenlast die haitianische Wirtschaft und legte den Grundstein für Armut und Korruption. 2004 ließ der damalige haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide errechnen, was diese "Reparationszahlungen" für Haiti bedeuteten. Rund 22 Milliarden amerikanische Dollar Rückzahlung forderten seine Anwälte damals von der französischen Regierung. Vergebens.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Haiti von den Akteuren der Weltbühne geschnitten wurde.

Doch nicht nur die Kolonialmächte grenzten die erste Nation freier Schwarzer aus. Lateinamerikas gefeierter Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar weigerte sich als Präsident von Großkolumbien, diplomatische Beziehungen zu seinen ehemaligen Verbündeten aufzunehmen, Haiti "brüte Rassenkonflikte aus".

Die USA verweigerten die Anerkennung bis 1862, als Abraham Lincoln glaubte, das Land könne als Auffangbecken für befreite Sklaven dienen. Die rassistische Haltung der Weltgemeinschaft hielt sich. Als Präsident Woodrow Wilson die Invasion Haitis vorbereitete, die von 1915 bis 1934 dauern sollte, bemerkte sein Außenminister William Jennings Bryan: "Ach Gottchen, denken Sie nur - Nigger, die Französisch sprechen."

Die jüngere Geschichte Haitis war eine Abfolge gescheiterter Versuche, das Land zu entwickeln und in eine wahre Unabhängigkeit zu führen. Die benachbarten USA unterstützten nur, wer ihre Interessen wahrte. Die Diktatur der Duvaliers zum Beispiel, auch wenn diese Haiti tief in die Schulden trieben.

Plantagenwirtschaft und Erdrutsche

Auch der erste demokratisch gewählte und nach einem Staatsstreich von amerikanischen Truppen wieder eingesetzte Präsident Jean-Bertrand Aristide schaffte es nicht, sein Land auf einen demokratischen und wirtschaftlich hoffnungsvollen Weg zu bringen.

Das schwerste Erbe seiner Geschichte trug aber nicht die Bevölkerung, sondern das Land Haiti. Als Kolumbus die Insel 1492 erreichte, bewunderte er ihre dichten, majestätischen Wälder. Heute stehen auf der haitianischen Seite nur noch zwei Prozent des ursprünglichen Baumbestandes.

Die Plantagenwirtschaft der Kolonialherren hatte die Wälder dezimiert. Später zwang die Armut die Menschen, die Wälder als Brennholz zu roden. Das hat zu schweren Erdrutschen geführt. Bei jedem Regen blockieren Erde und Schlamm die Flüsse und Bäche und verhindern so, dass der Grundwasserspiegel wieder steigen kann.

Zwei Ansätze zur Krisenbewältigung

Der Wassermangel führte aber nicht nur zu Krankheit und Tod. Er zwang auch viele Bewohner der Armenviertel, Zement und Beton mit Salzwasser anzurühren. Weil es aber kaum noch Holz gab auf der Insel, mussten ihre Bewohner mit Beton und Betonziegeln bauen. Und das auf einem porösen Boden.

Schon jetzt gibt es zwei Ansätze, die Krise nach dem Erdbeben in Haiti anzugehen. Optimisten wie der Architekt Cameron Sinclair oder die Journalistin Amy Wilentz sehen in der Katastrophe einen Funken Hoffnung für Haiti, einen Teil der historischen Last abzuwerfen und mit Hilfe der Welt neu zu beginnen.

Pessimisten wie Reihan Salam vom konservativen Thinktank New America Foundation glauben, Haiti sei nicht zu retten. Nur ein kontrollierter Exodus könnte den Bewohnern helfen. Der Wirtschaftswissenschaftler an der New York University Tunku Varadarajan glaubt dagegen, ein Anfang sei getan, wenn Frankreich endlich die 22 Milliarden US-Dollar zurückzahle.

© SZ vom 19.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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