Am vergangenen Wochenende schickte der britische Architekt und Gründer der Organisation Architecture for Humanity eine atemlose, verzweifelte E-Mail an seine Freunde und Unterstützer. "Nicht Erdbeben, sondern Gebäude töten Menschen" schrieb er in die Betreffzeile.
Damit brachte er auf den Punkt, was auch der Geologe und Autor Simon Winchester oder der Urbanist Mike Davis immer wieder geschrieben haben - es gibt keine Naturkatastrophen. Es gibt nur gewaltige Naturereignisse, die tödliche Folgen haben.
Die Konsequenz aus dieser Schlussfolgerung ist die Schuldfrage. Einfach lässt sie sich beantworten: Gier und Korruption sind fast immer die Auslöser einer Katastrophe. In Haiti aber liegen die Wurzeln der Tragödie tief in der Geschichte des Landes.
Diese begann nach europäischer Rechnung im Jahre 1492, als Christopher Kolumbus auf der Insel landete, die ihre Ureinwohner Aytí nannten. Kolumbus benannte die Insel in Hispaniola um und gründete mit den Trümmern der gestrandeten Santa Maria die erste spanische Kolonie in der Neuen Welt. Ende des 17. Jahrhunderts besetzten französische Siedler den Westen der Insel, den Frankreich 1691 zur französischen Kolonie Sainte Domingue erklärte.
Ideale der Französischen Revolution
Gut hundert Jahre währte die Herrschaft der beiden Kolonialherren über die geteilte Insel. "Saint Domingue war die reichste europäische Kolonie in den Amerikas", schrieb der Historiker Hans Schmidt. 1789 kam fast die Hälfte des weltweit produzierten Zuckers aus der französischen Kolonie, die auch in der Produktion von Kaffee, Baumwolle und Indigo Weltmarktführer war.
450000 Sklaven arbeiteten auf den Plantagen, und sie erfuhren bald vom neuen Geist ihrer Herren. Die Französische Revolution brachte die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Karibik. Im August 1791 war es so weit. Der Voodoo-Priester Dutty Boukman rief während einer Messe zum Aufstand.
Einer der erfolgreichsten Kommandeure der Rebellion war der ehemalige Sklave François-Dominique Toussaint L'Ouverture, nach dem heute der Flughafen von Port-au-Prince benannt ist. 1801 gab Toussaint dem Land seine erste Verfassung, die gleichzeitig eine Unabhängigkeitserklärung war.
Für Napoleon sollte Haiti eine Schmach bleiben.
Daraufhin sandte Napoleon Bonaparte Kriegsschiffe und Soldaten. Toussaint wurde verhaftet und nach Frankreich gebracht, wo er im Kerker starb. Doch als Napoleon im Jahr darauf die Sklaverei wieder einführen wollte, kam es erneut zum Aufstand.
Verzweifelt baten die französischen Truppen im Sommer 1803 um Verstärkung. Da aber hatte Napoleon schon das Interesse an der Neuen Welt verloren. Im April hatte er seine Kolonie Louisiana an die Nordamerikaner verkauft, ein Gebiet, das rund ein Viertel des Staatsgebietes der heutigen USA umfasste.
Für Napoleon sollte Haiti eine Schmach bleiben. Am 1. Januar 1804 erklärte der Rebellenführer Jean-Jacques Dessalines, die ehemalige Kolonie heiße nun Haiti und sei eine freie Republik. Der erste und bis zur Abschaffung der Sklaverei einzige erfolgreiche Sklavenaufstand der Neuen Welt war ein Schock für die Großmächte der Kolonialära, die ihren Reichtum auf der Sklaverei gegründet hatten.
Ein Handel, der die Geschichte Haitis bis heute bestimmt
Die Freiheit hatte ihren Preis. Ein Großteil der Plantagen war zerstört, ein Drittel der Bevölkerung Haitis den Kämpfen zum Opfer gefallen. Vor allem aber wollte keine Kolonialmacht die junge Republik anerkennen. Im Gegenteil -die meisten Länder unterstützten das Embargo der Insel und die Forderungen französischer Sklavenherren nach Reparationszahlungen.
In der Hoffnung, als freie Nation Zugang zu den Weltmärkten zu erhalten, ließ sich die neue Machtelite Haitis auf einen Handel ein, der die Geschichte der Insel bis heute bestimmt.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Sieg der Rebellen entsandte König Karl X. seine Kriegsschiffe nach Haiti. Ein Emissär stellte die Regierung vor die Wahl: Haiti sollte für die Anerkennung als Staat 150 Millionen Francs bezahlen. Sonst würde man einmarschieren und die Bevölkerung erneut versklaven. Haiti nahm Schulden auf und bezahlte.
Bis zum Jahre 1947 lähmte die Schuldenlast die haitianische Wirtschaft und legte den Grundstein für Armut und Korruption. 2004 ließ der damalige haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide errechnen, was diese "Reparationszahlungen" für Haiti bedeuteten. Rund 22 Milliarden amerikanische Dollar Rückzahlung forderten seine Anwälte damals von der französischen Regierung. Vergebens.
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