Süddeutsche Zeitung

Polnisch-Sowjetischer Krieg: "Alle Seiten massakrierten Juden"

Im Frühjahr 1921 endet ein blutiger Krieg, der fast vergessen ist. Historiker Stephan Lehnstaedt erklärt, wie es zu Reiterschlachten kommt, warum damals gezielt Zivilisten ermordet werden und wieso der Konflikt als "Urkatastrophe" Osteuropas gilt.

Interview von Oliver Das Gupta

Am 18. März 1921 schließen das bolschewistische Russland und Polen den Friedensvertrag von Riga. Der Konflikt hatte sich als Folge des Ersten Weltkrieges entzündet, denn die Grenzverläufe im nördlichen Osteuropa waren unklar. Das zuvor dreigeteilte Polen war erneut entstanden, dehnte sich nach Osten aus. Sowjetrussland war vom Bürgerkrieg gezeichnet, die Bolschewiki unter Lenin drängten nach Westen, auch in der Hoffnung, den Kommunismus weiter zu verbreiten.

Osteuropa ist damals noch ethnisch sehr gemischt besiedelt, entsprechend gibt es noch weitere Akteure die sich an den Kämpfen beteiligten: zarentreue Truppen, Militär aus dem Baltikum, auch Ukrainer und Weißrussen. "Jeder kämpft damals gegen jeden", sagt der Historiker Stephan Lehnstaedt, der über den kaum bekannten Polnisch-Sowjetischen Krieg ein Buch geschrieben hat: "Der vergessene Sieg" (C.H. Beck 2020).

SZ: Über Jahrhunderte leben Polen, Ukrainer, Balten, Juden und andere Ethnien konfliktreich im nördlichen Osteuropa. Während des Polnisch-Sowjetischen Krieges explodiert die Gewalt in einem bis dahin noch nie dagewesenen Ausmaß. Warum werden vor 100 Jahren die Nachbarn zu Todfeinden?

Stephan Lehnstaedt: Der lange Frieden ist auch eine Grabesruhe, die Kaiserreiche unterdrücken im 19. Jahrhundert alle potenziellen Konflikte - oft gewaltsam. Anfangs des 20. Jahrhunderts hat im Grunde jede dieser Ethnien - außer den Juden - eine eigene Nationalbewegung, die für einen eigenen Staat kämpft. Und jede dieser Nationalbewegungen kämpft deshalb auch gegen die anderen.

Wie verlaufen damals die Kämpfe?

Völlig anders als im Ersten Weltkrieg. Statt der Millionenheere gibt es kleine Armeen, die zwar mehrere Hunderttausend Mann umfassen, zugleich aber an der ganzen Front kämpfen: vom Baltikum bis zu den Karpaten. Versuche, ein Stellungssystem zu errichten und somit die eigenen Linien zu stabilisieren, scheitern. Es gibt damals schlichtweg zu wenige Soldaten für diese riesigen Frontabschnitte. Deswegen wogen die Fronten hin und her, von Kiew und Minsk bis zurück nach Warschau.

Der Erste Weltkrieg wurde zum ersten Maschinenkrieg, in dem auch Flugzeuge und Panzer zum Einsatz kamen. Mit welchen Waffen kämpfen die Akteure im Polnisch-Sowjetischen Krieg?

Alle Seiten verwenden das Material, das sie zur Verfügung haben - das ist nicht viel. Es handelt sich ja nicht um hochgerüstete Staaten wie im Weltkrieg. Oft hat eine Gruppe von zehn Kämpfern nur fünf Gewehre. Wenn einer getötet wird, übernimmt der Nächste die Waffe des gefallenen Kameraden. Entsprechend wird auch improvisiert, Hieb- und Schlagwaffen kamen vermehrt zum Einsatz.

Die Leute gingen mit dem gezogenen Säbel aufeinander los?

Und hoch zu Ross mit Lanzen. Es kam sogar zu häufigen Kavallerieschlachten. Aus Frankreich bekommen damals die Polen auch einige Panzer, die aber oft ohne Feindeinwirkung kaputtgehen: die Gefährte sind damals noch nicht für großflächige Gebiete geeignet. Pferde hingegen bieten damals viele Vorteile: Ein Tier mit Wasser und Gras zu versorgen, ist nun mal einfacher als Treibstoff für Verbrennungsmotoren aufzutreiben. Außerdem sind die Reiter überlegen, es ist leicht, die Frontlinien zu durchbrechen. Eine weitere Auffälligkeit dieses Konflikts ist damals auch, wie gezielt die Akteure gegen die Zivilbevölkerung vorgehen.

Aber auch im Ersten Weltkrieg wurden doch Zigtausende Zivilisten getötet.

Es gibt einen wichtigen Unterschied: Im Weltkrieg betrachtete man den Konflikt imperial und weniger ethnisch. Zwar wurden auch unzählige Zivilisten getötet, aber sie galten noch nicht bewusst als primäre Ziele militärischer Gewalt wie im Polnisch-Sowjetischen Krieg. Stellen Sie sich vor, dass polnische Kämpfer ein Dorf erobern und dann sofort den ukrainischen Priester aufspüren, misshandeln und umbringen. In anderer Konstellation verläuft das genauso: Wenn Bolschewiki in ein polnisches Dorf kommen, suchen sie nach dem katholischen Geistlichen, nach dem Bürgermeister und anderen Honoratioren. Wenn man sie findet, tötet man sie.

Sie erwähnten, dass jüdische Zivilisten - abgesehen vom Zionismus - damals keine eigene Nationalbewegung gebildet haben. Welche Rolle spielten sie in diesem Konflikt?

Vor allem sind sie damals Opfer. Dabei will sich die jüdische Bevölkerung vor allem aus den Konflikten heraushalten und in Frieden leben. Juden werden pauschal verdächtigt, illoyal zu sein und insgeheim für den Feind zu arbeiten.

Also bekannte antisemitische Stereotype.

Es sind Vorurteile, die furchtbare Folgen haben. Wohnhäuser und Geschäfte werden geplündert, man verprügelt die Juden, es gibt viele Tote. Oft wird auch eine Art symbolische Gerichtsverhandlung inszeniert. Alle Seiten massakrieren Juden, weil sie Juden sind. Gleichzeitig benutzen die Kriegsparteien auch immer wieder jüdische Zivilisten, weil sie mehrere Sprachen sprechen und deshalb als Vermittler auftreten können. Das wiederum wird ihnen dann von den anderen Akteuren als Verrat ausgelegt wird. Diese Gewalt passiert damals auch oft hinter der Front.

Wie viele dieser Pogrome gibt es damals?

In Polen kommt es allein zu weit mehr als 500. Neben dem Rauben und Morden lautet die Botschaft: Juden sollen sich nicht einbilden, dass sie gleiche Rechte hätten. Diese Antisemiten wollen einen Ständestaat errichten, in dem Juden isoliert und auf einer niedrigeren Hierarchiestufe gehalten werden.

Damit man eine ungefähre Größenordnung hat: Wie viele Juden werden damals ermordet und wie viele Opfer kommen insgesamt durch den Konflikt um?

In der eigentlichen Konfliktzone, die sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine befindet, werden damals mehr als 100 000 jüdische Zivilisten von Kämpfern aller Seiten getötet, in Polen, weit hinter der Front, immer noch mehrere Hundert. Genauere Zahlen gibt es zum Polnisch-Sowjetischen Krieg kaum, weil so wenig dokumentiert wurde. Insgesamt dürften mehrere Hunderttausend Menschen gestorben sein.

Warum weiß man so wenig über diesen Konflikt?

Die Forschung gerade in Polen fokussiert sich auf militärische Geschehnisse und Figuren wie den Kriegshelden und späteren Staatschef Józef Piłsudski. Aber wie sich das Ganze auf die Zivilbevölkerung auswirkt, ist kaum erforscht. Für das polnische Selbstverständnis hat man damals nicht nur das eigene Land gerettet, sondern auch Europa vor dem Kommunismus bewahrt.

Im März 1921 unterzeichnen Polen und das bolschewistische Russland den Friedensvertrag von Riga. Wer hat den Krieg gewonnen?

Beide Seiten können sich ein Stück weit als Sieger fühlen, gleichzeitig haben weder Warschau noch Moskau ihre Kriegsziele erreicht. Polen hat sein Staatsgebiet gesichert und behält es bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aber man verfügt nicht über das Territorium, das man erstrebt hat, das polnische Großreich des 18. Jahrhunderts ist nicht wiedererstanden, es gibt keine unabhängige Ukraine als Pufferstaat zu Sowjetrussland.

Und inwiefern können die Bolschewiki zufrieden sein?

Die Rote Armee stand zwischenzeitlich zehn Kilometer vor Warschau, am Ende sind es 600 Kilometer. Aber was sie erreicht haben: Sie haben eine gesicherte Westgrenze und zwar direkt zu Polen, Belarus und die Ukraine werden Teil der Sowjetunion. Das mit der Weltrevolution wird vertagt, aber die weißen Gegenrevolutionäre können in Ruhe niedergerungen werden. Die Befürchtung, dass sich Polen, zarentreue Truppen und die anderen Akteure zusammentun gegen die Bolschewiki, ist nicht eingetroffen. Das Überleben von Lenins Regime ist gesichert.

Also endet der Konflikt mit einem Patt der beiden Hauptopponenten. In Ihrem Buch nennen Sie den Krieg dennoch "Urkatastrophe" Osteuropas. Warum?

Weil damit die Basis für weitere blutige Konflikte gelegt ist. Die Nationalitätenfragen sind ungelöst, es gibt auch keine echte Minderheitenpolitik. Zwar mussten sich die Osteuropäer im kleinen Versailler Vertrag 1919 zu den Minderheitenrechten bekennen, nur: Diese Verpflichtung empfindet man als Zumutung und schürt so die ethnischen Konflikte weiter, anstatt sie zu lösen. Die Mehrheitsgesellschaft unterdrückt die Minderheiten, soweit man das darf.

Wie wirkt sich das aus?

Über die Stellung der Juden haben wir vorher schon gesprochen. Ukrainer und Belarussen haben im Krieg für Eigenständigkeit gekämpft, aber nichts erreicht, sie werden unter Zwang assimiliert und teils umgesiedelt. 20 Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, sind es dann ukrainische Nationalisten, die weit mehr als 100 000 Polen töten, anschließend bringen Polen danach Zehntausende Ukrainer um. Was bleibt, ist auch das teils bis heute bestehende Misstrauen der Nachbarstaaten gegenüber den Polen wegen deren Hegemonialstreben.

Können Sie ein Beispiel nennen für eine historische Begebenheit, die sich bis heute auswirkt?

Wilna ist nach 1921 polnisch, die Stadtbevölkerung besteht hauptsächlich aus Polen und Juden. Im Umland leben vor allem Litauer, die Wilna natürlich trotzdem als ihre Hauptstadt ansehen. 1940 schenken dann die Sowjets Wilna den Litauern, was bis heute dazu führt, dass Minderheitenfragen dort heftig diskutiert werden, es gibt Proteste der polnischen Minderheit.

Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes wurde Ostpolen von deutscher Seite der Sowjetunion zugeschlagen. War damit aus Moskauer Sicht der Makel des Kriegsausgangs von 1921 ausgebessert?

Das kann man so sagen. Aus der Perspektive der Sowjets holen sie sich damit das Territorium zurück, das ihnen nach Ende des Ersten Weltkrieges ohnehin zugestanden hätte. Stalin lässt sich den Grenzverlauf 1945 von den Westalliierten entsprechend bestätigen. Dies führt dann zu allerlei Zwangsumsiedlungen: Die Menschen, die aus Ostpolen vertrieben werden, übernehmen oft die Häuser der deutschen Vertriebenen in Schlesien, West- und Ostpreußen.

Die Aversion Warschaus gegenüber Moskau ist noch heute ausgeprägt. Welche Rolle spielt dabei der Polnisch-Sowjetische Krieg?

Die Erinnerung an den Konflikt ist ein durchaus wichtiges Element der polnischen Ablehnung. Aber dass die Polen die Russen tendenziell eher nicht mögen, ist schon seit Jahrhunderten so, weil es seit Jahrhunderten polnisch-russische Konflikte gibt, Stichwort Polnische Teilungen. Weitere Wegmarken nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg sind der Hitler-Stalin-Pakt und 45 Jahre Kommunismus. Diese historisch gewachsene Sensibilität möglicher Bedrohungen aus Russland bringt Polen heute auch in die EU ein. Brüssel und auch Deutschland würden gut daran tun, die Sicht Warschaus ernster zu nehmen.

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