Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Hier eine Rede, da eine Ausstellung

Berlin begeht den 75. Jahrestag des Angriffs auf die UdSSR in mehreren kleinen Episoden. Dabei hätten sich viele eine große Gedenkveranstaltung gewünscht - doch dafür ist die Lage gerade zu angespannt.

Von Stefan Braun, Berlin

Wahrscheinlich wäre es Andrji Melnik am liebsten gewesen, wenn es an diesem Mittwoch keine einzige Veranstaltung gegeben hätte. Keine Rede, keine Auftritte, keine Ausstellung. Wenn der ukrainische Botschafter in Deutschland nach dem Gedenken an den 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion gefragt wird, zeigen sich Zorn und Ablehnung. Von einem "geschmacklosen Coup" spricht Melnik, mit dem Russland diesen Tag "propagandistisch" missbrauche. Eine "Schande" sei das und ein "Affront gegen Millionen von Opfern des Vernichtungskrieges". An der Stelle mag der Botschafter kein Diplomat sein. Russland inszeniere sich "als angeblich alleiniges Opfer des Angriffs" und versuche auf diese Weise, Deutschlands "Schuldgefühl für die Sanktionsaufhebung zu wecken".

Vielleicht sind es solche Emotionen, die Bundesregierung, Bundespräsident und Bundestag in ihrem Gedenken an eines der schrecklichsten Kapitel des Zweiten Weltkriegs gebremst haben. Zu aktuell ist die russische Aggression. Und zu kompliziert könnte es werden, an das sowjetische Trauma zu erinnern, während auf der Krim russische Truppen das Sagen haben. Jedenfalls ist Berlin, anders als es Melnik suggeriert, am Jahrestag des Angriffs auf die UdSSR keineswegs beherrscht von der Erinnerung an die Gräueltaten.

Stattdessen hat der Bundespräsident aus dem fernen Rumänien eine schriftliche Würdigung geschickt; der Bundestag hat spät am Nachmittag 60 Minuten Debattenzeit freigeschaufelt. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert hält am Nachmittag eine Rede im Deutschen Historischen Museum, organisiert vom deutsch-russischen Museum in Karlshorst. Eine zentrale deutsche Gedenkveranstaltung gibt es nicht, obwohl das bei ähnlichen Anlässen durchaus gemacht wird. Die Linksfraktion hatte sich dafür eingesetzt; wie es heißt, sei die Idee von Koalitionsseite im Ältestenrat aber schnell verworfen worden. Was bleibt, ist eine Stunde Aussprache, für die Linke das Mindeste. Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin, sagt: "27 Millionen Tote in der Sowjetunion - das konnten wir nicht stehen lassen."

Die Frage einer Gedenkstunde im Bundestag wurde erörtert und schnell wieder verworfen

Dabei lassen diejenigen, die sich äußern, keinen Zweifel daran, was damals passiert ist. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der als Erster im Parlament spricht, beklagt wie zuvor schon in einem Beitrag für russische, weißrussische und ukrainische Zeitungen die "Hölle", die damals losbrach. Und er geißelt einen Krieg, der "jede zivilisatorische Errungenschaft hinwegfegte". Steinmeier müht sich um eine Balance zwischen der Erinnerung an damals und den Sorgen heute. "Bei allen aktuellen Debatten um die europäische Friedensordnung", so der Außenminister, "dürfen wir nie vergessen, dass der Vernichtungskrieg und die Untermenschen-Ideologie aus Europa, aus dem Westen, aus Hitler-Deutschland über die Völker der Sowjetunion hereinbrach". In einer Zeit, in der in Europa neue Trennlinien drohten, müsse man sich die "Bedeutung der gemeinsamen Erinnerung bewusst machen".

Sehr ähnlich klingt der Bundespräsident. "Der Blick zurück", mahnt Joachim Gauck, "sollte uns daran erinnern, wie kostbar die Antwort ist, die Europa auf Krieg und Vernichtung entwickelte: Unsere europäische Völkergemeinschaft beruht auf der Zusammenarbeit von Gleichberechtigten." Kein Land habe im Krieg so große Opfer gebracht wie die Sowjetunion: Fast 27 Millionen Menschen hätten ihr Leben verloren. Auch wegen seiner Erfahrungen in der DDR hat er ein zwiespältiges Verhältnis zur ehemaligen Sowjetunion. Am Mittwoch erklärte er gleichwohl, dass "die Völker der Sowjetunion einen großen, unersetzlichen und unvergesslichen Anteil am Sieg über den Nationalsozialismus" hätten, auch wenn später "neues Unrecht begangen wurde".

Am meisten in Erinnerung bleibt Erhard Eppler. Er spricht am Abend am russischen Ehrenmal. Nicht für eine Partei, nicht für einen Verein, nur für sich alleine, als einer der "Letzten" der Flakhelfergeneration. Eppler erzählt, was in den letzten Kriegstagen die anderen Soldaten vom Feldzug in Russland erzählt haben. Vom Töten für ein paar Filzstiefel, von der Grausamkeit dieses Krieges. Eppler erzählt von der Sehnsucht, dass sich das nicht wiederholen möge.

"Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden."

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SZ vom 23.06.2016
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