Geschichte:Heute ist alles besser

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Magnus Brechtken erklärt, wie man aus der Geschichte lernen kann. Mit sehr anschaulichen Beispielen legt er dar, warum man sich vor falscher Geschichtsmystik hüten sollte.

Von Joachim Käppner

Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart. Siedler-Verlag, München 2020. 304 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Einer von der Zunft empört zurückgewiesenen Ansicht zufolge lesen sich Bücher mancher deutscher Historiker schon bei den ersten Sätzen so, dass der Schlummer selbst die Wohlwollenden bald von der Last der Lektüre befreit. Der Münchner Zeithistoriker Magnus Brechtken freilich gehört da nicht zu den Verdächtigen. Sein Buch "Der Wert der Geschichte" beginnt höchst unterhaltsam (und bleibt es).

Man denke, schreibt er, an einen Patienten, der sich den Blinddarm operieren lässt. Gäbe es eine Zeitmaschine in die Vergangenheit, würde dieser Patient - wäre er unklug genug, sie zu nutzen -, schwerlich lebend zurückkehren in die kommode Gegenwart. Statt Hightech-Diagnostik würde der Arzt die Eingeweide eines Huhns zu Rate ziehen und aus diesen herauslesen, was dem Kranken wohl fehlen könnte. Zur Operation rückte die Chirurgin mit einem Küchenmesser an (und nur die Mächte des Himmels wüssten, ob es nicht zuvor zum Aufschneiden des Huhns Verwendung fand). Und vielleicht "könnte unser Patient noch mit letzter Kraft darüber staunen, dass sich die Pflegekräfte zum Gebet versammeln, statt ihm Antibiotika zu verabreichen".

Was schließen wir daraus? Dass heute alles besser ist oder jedenfalls sehr, sehr vieles. Dass es der Menschheit bei allen Nöten vergleichsweise viel besser geht, als es die Populisten, Querulanten, Verschwörungsmystiker und leider auch viele normale Bürger wissen wollen. Oft ist zu hören, schreibt Brechtken, "man lerne aus der Geschichte, dass man aus ihr nichts lernen könne. Dabei ist die Antwort recht einfach: Wir können, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns gar nicht verfügbar."

Brechtken, Vizedirektor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, nimmt die Vergangenheit als Folie für ein leidenschaftliches Plädoyer, die Errungenschaften der Gegenwart nicht modisch geringzuschätzen: Frieden, Freiheit, Demokratie, Aufklärung. Zu Recht und höchst anschaulich führt er diesen Fortschritt auf die Erkenntnis zurück, dass der Mensch von Natur aus frei und zur Vernunft fähig ist. Er erläutert dies prägnant an Beispielen wie der Überwindung religiöser Dogmatik und des Nationalismus oder an der Gleichberechtigung der Frauen. Dabei entwirft Brechtken keine verkürzte Weltsicht wie Francis Fukuyama, der 1992, nach dem Kollaps des Kommunismus, schon das legendäre "Ende der Geschichte" gekommen sah; eher erinnert sein Ansatz an den optimistischen US-Philosophen Steven Pinker ("Aufklärung jetzt"). Brechtken sieht den Weg des menschlichen Fortschritts als labyrinthisch an, voller Irrwege, Rückschläge und Widersprüche.

Zum Beispiel: Die erste große Proklamation der Demokratie, die Gründungsurkunde der USA von 1776, verfassten Männer, von denen manche, wie Thomas Jefferson, schwarze Sklaven besaßen und die trotzdem festschrieben, dass alle Menschen "gleich geschaffen sind". Solche krassen Widersprüche zu benennen, schreibt Brechtken, "widerlegt in keiner Weise den historischen Fortschritt. Denn der Maßstab, sich auf die Universalität der Menschenrechte hin zu orientieren und die Ordnung der Gesellschaft an ihr auszurichten", sei gerade die Stärke der Demokratie. Die Antirassismus-Proteste des Jahres 2020 zeigten daher den Willen der offenen Gesellschaft, Ungerechtigkeiten zu überwinden. Wenn man fragt, was diese Gesellschaft, die oft auseinanderzudriften scheint, noch zusammenhält: Diese kluge und lesenswerte Buch ist ein Beitrag dazu.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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