Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Eurozentrische Akademiker

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Ein Sammelband will das 20. Jahrhundert vermessen - die Autoren versuchen, "historische Signaturen" zu entdecken und ordnen das Ganze thematisch statt wie üblich chronologisch. Doch ihr Maßband ist zu klein geraten.

Von Werner Hornung

Drei Frauen und elf Männer, allesamt versierte Historiker, rollen ihr Maßband aus und wollen "Das 20. Jahrhundert vermessen". So lautet der Titel des Buchs, das Martin Sabrow und Peter Ulrich Weiß herausgegeben haben. Ihr Sammelband soll eine "kaleidoskopische Zusammenstellung mit Lesebuch-Charakter" sein. Er enthält vor allem Beiträge, die 2014/15 Bestandteil einer Vortragsreihe des Berliner Instituts für Geschichtswissenschaften (Humboldt-Universität) waren.

Wenn Historiker etwas vermessen, ist meist eine zeitliche Abfolge von Jahren zu erwarten. Hier jedoch ist nichts chronologisch geordnet, sondern thematisch. Deshalb handeln die Essays unter anderem von Grenzen, Massenmedien, Kriegen, Krisen oder vom Sozialstaat, zudem ausführlicher von Frankreich und der Sowjetunion. Die Autoren beschreiben wichtige Ereignisse und Entwicklungen, versuchen Typisches zu erfassen: nämlich "historische Signaturen". Schon in der Überschrift finden sich oft verbale Etiketten wie "Das lange 20. Jahrhundert der Gewaltmigration", "Jahrhundert der Extreme", "Zeit der Zäune", "Das Jahrhundert der Jugend?" oder "Der Holocaust als Jahrhundertsignatur". Bei den inhaltlichen Akzenten und auch in der Argumentationsweise fallen natürlich Unterschiede auf. Zum Beispiel kommt der "Siegeszug der Konsumgesellschaft", verfasst von Heinz-Gerhard Haupt, teils sprunghaft daher; während Ute Frevert in ihrer lesenswerten Vergleichsstudie zur rational und emotional geprägten Politik geradliniger auf den Punkt kommt: "Für populistische Politiker und Diktatoren wie Hitler, Stalin oder Mussolini war der öffentliche Raum geradezu ein gefühlspolitisches Exerzierfeld." So anschaulich das jetzt klingt, insgesamt ist dies aber kein populärwissenschaftliches Buch. Hier schreiben Experten in ihrem vorwiegend akademischen Jargon (etwa "viktimistisches Narrativ" oder "zäsural") eher für ein Fachpublikum. Außerdem vermisst man Bilder, Grafiken, Karten und Register.

Der wesentliche Mangel bei dieser historischen Vermessung ist allerdings die eurozentrierte Perspektive. Amerika, Asien und Afrika werden zwar gelegentlich erwähnt, doch gibt es keine eigenen Beiträge zur Supermacht USA, zum Aufstieg Chinas oder zur Dekolonisation afrikanischer Staaten. Was der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel 2009 mit seinem globalgeschichtlichen Meisterwerk "Die Verwandlung der Welt" (C. H. Beck Verlag) zum 19. Jahrhundert allein geschafft hat, ist diesem Autorenteam zum 20. Jahrhundert nicht gelungen.

Der vielversprechende Titel des Sammelbandes ist mindestens eine Nummer zu groß und das gewählte Maßband zu klein.

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SZ vom 12.06.2017
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