Süddeutsche Zeitung

Geschichte Europas:Der Begriff "christliches Abendland" ist geistiger Müll

Überspitzt könnte man Deutschland heute eine Heidenrepublik nennen - historisch gesehen ging es in Europa ohnehin seit jeher recht morgenländisch zu.

Gastbeitrag von Michael Wolffsohn

Michael Wolffsohn, 70, ist Historiker und Publizist sowie Hochschullehrer des Jahres 2017.

Geistiger Müll muss beseitigt werden, wenn vom "christlichen" oder gar "christlich-jüdischen Abendland" gesprochen wird. Beides ist mehr Fiktion als Fakt, und außerdem gehört die eher zeit- als allgemeinhistorische Bezeichnung "christlich-jüdisch" zum vornehmlich deutschen Wiedergutmachungsvokabular.

Einerseits leiden wir unter stammtischlerisch grölenden Zeitgenossen à la Pegida. Sie reden sich und anderen ein, das Abendland vor dem (neuerlichen) Untergang zu retten. Andererseits behaupten manche, auch "Wissenschaftler": Abendland sei Kampfbegriff der Islamfeinde. Beides ist geistiger Müll.

Unter der Geografie des Abendlands (Okzident) wird allgemein West-, Süd- und Zentraleuropa verstanden. Unsere Vorfahren - sie kamen vor 45 000 Jahren oder noch früher - stammen aus Afrika. Nix "weiße Herrenrasse", nix christlich. Die abendländische Ideologie war schon früh herrisch und teils selbstherrlich. Während der Perserkriege, im fünften vorchristlichen Jahrhundert, nahm man es im antiken Athen so wahr: hier Demokratie, dort orientalische Despotie. Ist die heutige Selbstsicht aufgeklärter?

"Juden raus!" und "Muslime raus!" sind keine zeithistorische Erfindung

Womit wir beim nächsten Stichwort wären: der Abfolge von Abendland-Morgenland-Invasionen. Ouvertüre waren die Perserkriege. Das Morgenland stieß ins Abendland. Rund hundert Jahre später, im vierten vorchristlichen Jahrhundert, folgte der Gegenstoß: Vom Okzident kommend, überrollte Alexander der Große den Orient.

Bis heute lösten unterschiedlich lange machtpolitische Zyklen und Wellen vom Abendland ins Morgenland und umgekehrt einander ab. Rom folgte Hellas. Auch Roms Reich zerfiel. Vom 8. bis zum 15. Jahrhundert drang der Orient als Islam nach Südwesteuropa (Iberien). Die Osmanen beherrschten Südosteuropa seit dem 14. Jahrhundert.

Während ihrer Herrschaft konvertierten die meisten Albaner und Bosnier, teils auch Bulgaren, zum Islam. 1529 sowie 1683 standen "die" Türken vor Wien. Sie wurden zurückgedrängt und verloren bis zum frühen 20. Jahrhundert fast alle europäischen Territorien vornehmlich an die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Ihre Reiche zerfielen, wie andere zuvor. Nach 1945, also durch die Entkolonialisierung und im Kalten Krieg, dominierten zwei andere quasi abendländische Mächte das Morgenland: die USA und die Sowjetunion.

Fazit: Bis 1492 gehörte der Islam zu Südwest-Europa. Zu Südosteuropa gehört er seit dem 14. Jahrhundert, wenngleich noch nicht zu Deutschland (um einen bekannten Hobby-Historiker, der zeitweilig Bundespräsident war, zu zitieren).

Betrachten wir die christliche Gegenoffensive etwas genauer. Sie begann als "Reconquista" Iberiens Mitte des 8. Jahrhunderts. Die Rolandsage um Karl den Großen ist ein frühes Zeugnis jener Epoche. "Muslime Raus!" Das war ihre Botschaft. Das mittelalterliche Gegenstück zum neuzeitlichen "Juden raus!" folgte im kirchlich-christlichen, weniger christlich-barmherzig-milden und kaum jesuanischen Zeitalter der Kreuzzüge von 1096 an.

Am Rhein wurden Juden regelrecht abgeschlachtet. Man lese Heines "Rabbi von Bacherach". Wir lernen: "Juden raus!" und "Muslime raus!" sind keine zeithistorische Erfindung. Das kirchlich-christlich-abendländische Sündenregister ist lang. Eine fundamentale Einschränkung sei hervorgehoben: Christentum und Kirche sind nicht immer gleichzusetzen. So wenig wie Aufklärung und Toleranz. Der große Aufklärer Voltaire schwelgte ganz und gar unaufgeklärt in antijüdischer und antimuslimischer Polemik.

Schauen wir auf die Religion (Theologie). Wieder werden Abendländer wie "Patriotische Europäer" schockiert. Schock eins: Das Christentum stammt aus dem Morgenland. Schock zwei: Am Anfang, bis ins 4. Jahrhundert, war das Abendland nicht nur heidnisch, sondern - noch "schlimmer" - jüdisch. Lange bevor die Germanen Christen wurden, gab es in Europa Juden. Jahrhunderte vor den Kirchen standen in Germanien, Gallien und Britannien Synagogen.

Die heidnischen Abendländer wurden zudem nicht durchweg freiwillig zu Christen. Missionare wie Kilian und Bonifatius wurden von den Vorfahren des deutschen Michels ermordetet, und Frankenkönig Karl "der Große" taufte um 800 die Sachsen auf seine Art: blutig. Und heute? Wo ist das Abendland noch wirklich christlich? Überspitzt könnte man Deutschland, besonders im Osten, eine Heidenrepublik nennen. Selbst Spanien und Italien haben sich im kirchlichen Sinne entchristlicht.

Die jüngere Demografie des Abendlandes wird manche erneut schockieren. Sie ist eine Folge der Entkolonialisierung im Morgenland, und sie entbehrt nicht der geschichtsethischen Ironie. Die zuvor Kolonisierten suchten Schutz oder (etwas mehr) Wohlstand bei den einstigen Kolonisten. Aus den ehemaligen Kolonien strömten nach 1945 Menschenmassen freiwillig ins jeweilige Land der einstigen Kolonialmächte.

Künftige Wirklichkeiten durchaus realistisch einschätzend entflohen sie entweder dem erwarteten wirtschaftlichen Elend oder internen blutigen Abrechnungen. Nach der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahr 1947 strömten zahlreiche Muslime ins einst wenig geliebte und nicht selten bekämpfte britische "Mutterland".

Ähnlich verlief der allmähliche bevölkerungspolitische Wandel Frankreichs. 1956 wurden Marokko und Tunesien souverän, 1960 folgten 18 Staaten Afrikas, 1962 Algerien.

Als Quasi-Völkerwanderung kommt seitdem der mehrheitlich muslimische Orient millionenfach aus Nah- sowie Mittelost, Nordafrika und sogar der Sub-Sahara ins postchristliche Abendland.

Man denke an die vielen Kongolesen gleich welcher Religion, die nach 1960 nach Belgien kamen, oder an die Angolaner sowie Mosambikaner, die nach 1975 ihre Heimat verließen, um sich im nachkolonialen Portugal niederzulassen. In die Niederlande kamen Muslime zuerst aus Indonesien, das 1949 seine Unabhängigkeit erkämpft hatte.

Deutschlands demografischer Fundamentalwandel begann anders. Von 1961 an, nach der Errichtung von Mauer und Stacheldraht, fehlten Arbeitskräfte aus der DDR. Bonn suchte und fand - Türken. Sie wurden als "Gastarbeiter" wie Waren importiert, das hat nicht nur ihre erste Generation frustriert.

Heute wird uns von ihren Kindern und Kindeskindern die Rechnung dafür präsentiert. So mancher reagiert darauf wie in Schillers Fiesco: "Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen." Anstand sieht anders aus.

Der Begriff "demografische Revolution" ist keine Dramatisierung. Die meisten muslimischen Neu-Abendländler wollten entweder ein wirtschaftlich besseres Leben oder auch nur einfach überleben, weil und wenn in ihrer Heimat Kriege und Bürgerkriege tobten.

Ergo: Lange vor der angeblichen Merkel-Migrations-Misere des Jahres 2015 begann die Einwanderung aus dem erweiterten Morgenland ins längst nicht mehr gar so christliche Abendland.

Das bedeutet: Durch die demografische Revolution durchlebt das Abendland seit Jahrzehnten zugleich eine soziologische, religiöse beziehungsweise theologische und kulturelle Revolution. Das Abendland wird zwar nicht morgenländisch, aber im Abendland sind mehr denn je Morgenland und Islam.

Mehr Morgenland und mehr Muslime bedeuten mehr Religion; mehr Islam und noch weniger Christentum, denn Christen verlassen scharenweise die Kirche, die außerdem immer mehr Politik und weniger Religion bietet. Doch Politik beherrschen Politiker immer noch besser als Kirchenleute.

Die Folge: Die Kirchen werden noch leerer. Soll, kann man von einer selbstverschuldeten Entchristlichung des christlichen Abendlandes sprechen?

Die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache

Selbstverschuldet oder nicht, die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache. Und trotzdem (oder sogar deshalb?) beklagen Abendländer den (wievielten?) Untergang des Abendlands durch dessen "Islamisierung".

Bevor über die "Islamisierung" gejammert wird, sollten sich erstens die Kirchen im jesuanischen Sinne verchristlichen. Zweitens sollten Christen ihr Christentum nicht unbedingt praktizieren, doch zumindest kennen.

Wer nicht einmal weiß, weswegen Christen Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern, ist unfähig, mit Angehörigen anderer Religionen den überlebenswichtigen Dialog zu führen.

Vielleicht wird das weitgehend entkirchlichte Abendland irgendwann jesuanisch-christlich und der Islam in Europa ein europäischer Islam? Wer weiß?

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SZ vom 31.03.2018/odg
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