14. August 1989:Als Honecker den Sozialismus für unaufhaltsam erklärte

Gorbatschow wird 80

Erich Honecker (rechts), hier bei einer Veranstaltung zum XI. Parteitag der SED mit Michail Gorbatschow 1986, war bis zuletzt von der Stärke der DDR überzeugt.

(Foto: dpa)

Vor 30 Jahren sagte der SED-Chef einen Satz, der zeigt, wie sehr er noch kurz vor dem Mauerfall vom Sieg der DDR-Ideologie überzeugt war. Litt er an Realitätsverlust? Ein Gespräch mit dem Biografen Martin Sabrow.

Interview von Thomas Balbierer

Am 14. August 1989 überreichen Mitarbeiter des Erfurter Kombinats Mikroelektronik dem DDR-Staatschef Erich Honecker ein Muster des ersten DDR-32-Bit-Mikroprozessors. Honecker ist so begeistert, dass er einen alten Spruch der Arbeiterbewegung zitiert: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf." Kurze Zeit später ist die DDR Geschichte, das Zitat gilt bald als Symbol für Honeckers Realitätsverlust.

Von Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor an der Berliner Humboldt-Universität, stammt die Honecker-Biografie "Das Leben davor" über die Jugend des späteren Staatschefs. Derzeit arbeitet er am zweiten Band.

SZ: Herr Sabrow, als Honecker den Sozialismus vor 30 Jahren für unaufhaltsam erklärte, flüchteten bereits Tausende aus der DDR, es gab Proteste und die Wirtschaft lag am Boden. Wollte der SED-Chef die dramatische Lage einfach nicht wahrhaben?

Martin Sabrow: Er hatte sich in den Jahren zuvor sehr weit von der Innenpolitik weg- und zur Außenpolitik hinbewegt und den Eindruck gewonnen, dass die DDR ein Staat internationalen Formates geworden sei. Und zu dieser Auffassung konnte er auch gute Gründe haben, wegen der Wertschätzung und Anerkennung, die er in der westlichen Welt erfuhr.

Trotzdem pries Honecker die innere Stärke der SED. Als der SPD-Politiker Johannes Rau ihn fragte, warum die Stimmung in seinem Land so mies sei, antwortete Honecker: "Die Einheit der Massen mit der Partei war noch nie so stark wie heute. Das Volk steht hinter der Partei." War er tatsächlich so verblendet?

Als Johannes Rau ihn zur Leipziger Frühjahrsmesse 1989 besuchte, zog die FDJ (Freie Deutsche Jugend, kommunistischer Nachwuchsbund der DDR; Anm. d. Red.) Fähnchen schwingend an Honecker vorbei. Da fühlte er sich wohl in seniler Sentimentalität an seine Jugendzeit und seine Zeit als FDJ-Gründer erinnert und ließ sich von dieser Stimmung mitreißen. Es war ihm natürlich längst nicht so deutlich wie uns heute, dass das gesamte Herrschaftssystem der DDR einem Potemkinschen Dorf glich. Die Funktionärselite lebte in einer Blase, in der es nur ihr selbst gut ging. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet das geschminkte Äußere der sogenannten "Protokollstrecke" von Wandlitz nach Berlin, an der verwahrloste Hausfassaden bis zum ersten Stock aufgefrischt wurden - höher reichte der Blick des Generalsekretärs durch die Seitenscheiben seiner Staatslimousine nicht.

Honecker war also von der Realität abgeschirmt?

Sicherlich lebte Honecker in Imagination eines täglich neu inszenierten Konsenses zwischen Volk und Führung. Auf der anderen Seite war er kein Traumtänzer. Auch ihm war zumindest in Umrissen bewusst, wie schwierig die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren. Er verließ sich hier auf den autoritären Lenkungsstil seines Wirtschaftsverantwortlichen Günter Mittag und verbot Gerhard Schürer, dem Leiter der Plankommission, das Wort, als der ihn wiederholt über die desolate Lage unterrichten wollte.

Martin Sabrow

Honecker sah das Ende der DDR als "temporäre Niederlage" des Sozialismus, sagt der Historiker Martin Sabrow.

(Foto: picture alliance/dpa)

Das klingt, als hätte er die Realität bewusst ausgeblendet?

Er hat die negativen Bilder der Innenpolitik durch die außenpolitischen Erfolge kompensiert und nicht erkennen wollen, dass es ein Wechselverhältnis von äußerer Integration und innerer Auflösung des Regimes gab. Die internationale Integration bedeutete ja, dass die DDR aus ihrer Isolierung ein Stück weit heraustreten musste. Zum Beispiel durch die wechselseitigen Besuche von BRD- und DDR-Politikern. Das hat Honecker als Stärkung empfunden, faktisch führte es in das Gegenteil: eine Schwächung.

Im Spätsommer 1989 war Honecker bereits schwer krank, er litt an Krebs. Wenige Tage nach dem Spruch wurde ihm die Galle entfernt. War er überhaupt noch fähig, die Geschicke der DDR zu leiten?

Er selbst sagte nach seiner Absetzung im Politbüro am 17. Oktober 1989 zu einer Vertrauten, dass er eigentlich froh sei - er hätte diese Last nicht mehr tragen können. Sein gesundheitlicher Zusammenbruch infolge einer Gallenkolik ereignete sich beim Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten in Bukarest im Juli 1989. Honecker wurde später in Ost-Berlin operiert und war eine Zeit lang außer Gefecht gesetzt. Aber im September glaubte Honecker, er könnte erfrischt weitermachen. 'So, da wären wir wieder', sagte er, als er im Politbüro auftauchte. Dass er auch an Nierenkrebs litt, erfuhr er erst im Januar 1990.

Eine Reduktion der geistigen Spannkraft ist bei ihm schon beobachtbar gewesen. Das bestimmte auch in starkem Maße sein Handeln. Ich denke da an den von ihm am 1. Oktober 1989 in eine Nachrichtenmeldung hineinredigierten Satz über die DDR-Botschaftsflüchtlinge, denen man keine Träne nachweinen sollte. Hier zeigte sich eine starke Engstirnigkeit und Eigensinnigkeit, die im Nachhinein als Beschleunigung des Untergangs gelesen wird. Man kann diese Lesart allerdings auch umdrehen und sagen: Diese Engstirnigkeit könnte die Voraussetzung gewesen sein, um ohne Blick nach links und rechts einen Kurs beharrlich weiterzuverfolgen, der sonst schon früher gescheitert wäre.

Honeckers Starrsinn hätte demnach das Bestehen der DDR sogar verlängert?

Zumindest ist das ein interessanter Gedanke. Honecker hat sich ja nicht planlos auf den Untergang zubewegt. Fast alle gingen davon aus, dass die DDR das nächste Jahrzehnt - gewiss in veränderter Form - überstehen würde. Und Honecker verfolgte den Plan für einen Ausgleich mit dem Westen. Dieser Plan besagte, durch eine weitere Annäherung genügend Geld zur Ertüchtigung der eigenen Volkswirtschaft zu gewinnen. Man könnte das brutal übersetzen in: dosierte Abtragung der Mauer gegen Milliarden. Dahinter stand bei Honecker die vage Hoffnung, dass die sich intensivierende Zusammenarbeit zwischen DDR und Bundesrepublik in eine deutsch-deutsche Konföderation unterschiedlicher Gesellschaftssysteme hätte münden können. Dieses Ziel könnte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass Honecker trotz seines Alters nicht zurückgetreten ist. Er hielt sich für unverzichtbar.

Am 17. Oktober wurde Erich Honecker vom Politbüro der SED einstimmig abgewählt. Überraschte ihn die Entmachtung?

Als taktisch erfahrener Parteifunktionär hat Honecker vermutlich geahnt, dass etwas im Busch war. Ihm war jedenfalls bewusst, dass er im Politbüro eine starke Gegenfraktion hatte. Stoph, Mielke und Krolikowski arbeiteten hinter Honeckers Rücken an seiner Diskreditierung, indem sie nach Moskau berichteten, dass er auf ein deutsch-deutsches Techtelmechtel setze und die sozialistischen Werte verrate. Honecker wusste das und sah sich trotzdem nicht in der Lage, die drei auszuschalten, glaubte vielleicht auch, sie im Politbüro besser unter Kontrolle zu haben. Umso mehr traf ihn, dass sich ausgerechnet seine engsten Vertrauen Erich Mielke und Günter Mittag am 17. Oktober sehr vehement gegen ihn aussprachen.

Wie erlebte der damals 77-Jährige die letzten Wochen des untergehenden Staates?

Bis zum 9. November galt Honecker als Staatschef im Ruhestand. Er wurde mit stehenden Ovationen im Zentralkomitee verabschiedet, ging zurück in sein Büro, übergab alle Papiere und Schlüssel, schrieb Briefe und Grußadressen und zog sich dann zurück. Er ging weiter zur Jagd. Als sich die Verhältnisse ab dem 9. November umkehrten, geriet Honecker unter Druck. Er verlor seinen Wohnsitz und musste sogar um Kirchenasyl bitten, nachdem die Regierung Modrow ihm keine sichere Bleibe mehr anbieten konnte.

Honecker wurde noch in der DDR in Untersuchungshaft genommen und angeklagt. Wegen seines Gesundheitszustandes kam er aber wieder frei und rettete sich erst in die Obhut der sowjetischen Streitkräfte und dann nach Moskau. Dort erwartete er sich einen Lebensabend als verdienter Pensionär des Sozialismus. Doch auch in Moskau verschlechterte sich von Monat zu Monat seine Position, Honecker verlor den russischen Rückhalt und floh in die chilenische Botschaft. Auf bundespolitischen Druck hin verlor er auch dieses Asyl und wurde nach Deutschland zurücküberstellt.

Wo er unter anderem wegen der Todesschüsse an der Mauer angeklagt wurde. Vor Gericht sagte der Angeklagte 1992, die DDR habe gezeigt, "dass Sozialismus möglich und besser sein kann als Kapitalismus". Noch ein Beispiel für seinen fortschreitenden Realitätsverlust?

Honecker war ein Kommunist von der ersten bis zur letzten Stunde seines politischen Lebens. Er verarbeitete das Ende der DDR nicht als traumatisches Ende des Sozialismus, sondern als temporäre Niederlage, aus der man gestärkt hervorgehen werde.

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