Geschichte des Irak:Blut floss in Kerbela

Der moderne Irak, heißt es immer, sei ein künstliches Gebilde. Doch der Irak in seinen heutigen Grenzen - und mit seinen inneren Spannungen - existierte schon vor dem Ersten Weltkrieg. Nicht an allen Konflikten sind die europäischen Kolonialstrategen schuld.

Von Tim Neshitov

Wäre George W. Bush bloß nicht in Irak eingefallen - und hätte Barack Obama Irak bloß nicht verlassen. Dann wäre heute alles gut (oder zumindest besser, als es ist). Ein Land zerfällt, auf eine blutige, unübersichtliche Weise: Das ist die Zeit für Schuldzuweisungen. Im Fall des Irak dient aber die Methode der Schuldzuweisung, the blame game, bereits seit Jahrzehnten als Erklärung für ethnische und religiöse Gewaltorgien, denen man sich sonst mit komplizierten Analysen innerirakischer Politik nähern müsste.

Der moderne Irak, lautet eine populäre, hobbyhistorische These, sei ein künstliches Gebilde, das erst im Ersten Weltkrieg von ein Paar gierigen Kolonialfantasten in London und Paris ersonnen wurde. An der Dauerfehde zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden im heutigen Irak seien demnach vor allem die willkürlichen Grenzen eines Vasallenstaates schuld, in dem zusammengewürfelt wurde, was nie zusammengehört hatte.

Es gab immer schon eine irakische Identität und Patriotismus

Westliche Strategen mit primärem Interesse an Sachen wie Öl, Häfen und Bahnlinien tragen gewiss ihre Verantwortung für die irakische Tragödie. Aber Irak in seinen heutigen Grenzen, mit all seinen ethnischen und konfessionellen Trennlinien, gab es längst vor dem Ersten Weltkrieg. Es existierte zwar kein Staat namens Irak, aber es gab einen Irak als zivilisatorische Einheit, und die hieß in den osmanischen, mamelukischen, russischen und, ja, auch in europäischen Quellen genauso: Irak.

Sunnitische, schiitische, kurdische, christliche, jüdische Bewohner dieses Iraks bekriegten sich immer wieder. Gleichzeitig aber sahen sie sich als Iraker, im Gegensatz etwa zu den Persern, gegen die sie sich gelegentlich gemeinsam wehrten, oder den Osmanen, denen sie Abgaben zahlten. Es gab eine irakische Identität, womöglich gar einen irakischen Patriotismus.

Anfang des 19. Jahrhunderts lebte im südirakischen Basra (einer überwiegend schiitischen Gegend) ein sunnitischer Historiker namens Ibn Sanad. Er protokollierte das irakische Zeitgeschehen. 1802 überfielen saudische Wahhabiten Kerbela, die heilige Stadt der Schiiten südlich von Bagdad, und plünderten das Grab von Hussain, eines Enkels des Propheten. In seiner Chronik äußert Ibn Sanad keinerlei Sympathie für die Plünderer aus dem Ausland, obwohl sie seine Glaubensbrüder sind, sondern er trauert um die irakischen Opfer: "Und im Jahr 1216 (muslimische Zeitrechnung - Red.) fiel Saud bin Abd al-Aziz in Irak ein. Eines Morgens griff er Kerbela an und fügte der Stadt jedes erdenkliche Leid zu. Er kletterte über die Wände der Stadt, in der Hussain liegt, Friede sei mit ihm, und tötete eine große Zahl von Menschen und sammelte viel Beute und ließ das Blut der Ermordeten die Straßen überfluten."

Eine Einheit zwischen Syrien und Irak, die es nie gab

Heute wollen sunnitische Krieger, die von syrischem Boden aus in Irak eingefallen sind, schiitische Heiligtümer zerstören und Schiiten töten. Dabei beschwören sie eine Einheit zwischen Syrien und Irak, die es administrativ nie gab. Der norwegische Irak-Historiker Reidar Visser, der amerikanische Geheimdienste über die Terrorgruppe Isis beriet, als sie noch nicht in den Schlagzeilen stand, arbeitet seit 1990 in den Irak-Archiven in Istanbul, London und Delhi. Er schreibt: "All das Gerede, diese Grenzen seien lediglich einhundert Jahre alt und alles sei von europäischen Kolonialisten ausgeheckt worden, ist wissenschaftlich gesehen kompletter Irrsinn."

Nahost-Analytiker, die Iraks Elend vor allem auf die Rolle der Europäer zurückführen, berufen sich oft auf das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom Mai 1916. Es gilt als die Ursache der europäischen Nahost-Panne mit Langzeitwirkung. Da es sich aber um ein Geheimabkommen handelt, berufen sich auch Verschwörungstheoretiker gerne darauf.

François Georges-Picot, der französische Konsul in Beirut, und der britische Diplomat Sir Mark Sykes verständigten sich also mitten im Weltkrieg darüber, wie die östlichen, überwiegend arabisch besiedelten Gebiete des zerfallenden Osmanischen Reichs (heute: Syrien, Irak, Libanon, Israel, Palästina) nach der Auflösung dieses Reichs aufgeteilt würden. Frankreich sprach sich unter anderem Damaskus und die Mittelmeerküste zu, Großbritannien Bagdad, Basra und Amman.

Ein Geheimabkommen nährt Verschwörungstheorien

Picot und Sykes konnten sich das großzügige Verteilspiel nur leisten, weil Russland (eine andere Großmacht mit Interessen in der Region) dem Ganzen zugestimmt hatte. Im Gegenzug bekam der Zar die Kontrolle über den Bosporus und die Dardanellen versprochen, sowie Istanbul und die armenischen Gebiete des Osmanischen Reichs. Nach der Oktoberrevolution 1917 gab es keinen Zaren mehr und das bolschewistische Russland wurde aus weiteren geostrategischen Kalkulationen herausgestrichen. Lenin, gewiss frustriert, veröffentlichte daraufhin das Geheimabkommen im November 1917 in der Prawda.

Das Königreich Irak, das die Engländer 1921 aus dem Hut zauberten, entsprach in seinen Grenzen und in seiner ethnisch-religiösen Vielfalt jenem Irak, der fast 400 Jahre lang unter osmanischer Herrschaft existiert hatte. Erst in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet administrativ in Bagdad, Basra und Mossul unterteilt.

Erstaunlich deswegen, dass auch türkische Nahost-Experten (die direkten Zugang zu osmanischen Archiven hätten) mit Sykes-Picot so ziemlich jeden Schuss erklären, der an ihrer östlichen Grenze fällt, oder auch weit weg wie in Tunesien. Mitten im Arabischen Frühling veröffentlichte das Massenblatt Hürriyet die geostrategische Analyse eines anonymen "ranghohen Botschafters a.D.", der sich Gedanken machte über Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien. "Es geht hier nicht um Reformen, Demokratie und Ähnliches, sondern um eine Wiederverteilung! Was hier passiert (. . .) ist eine neue Version des geheimen Sykes-Picot-Abkommens.

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