Geschichte der Flüchtlingspolitik:Herzlich willkommen

Migrant children play at the immigration centre on the southern Italian island of Lampedusa

Sie haben kaum Platz zum Leben und Spielen, aber immerhin haben sie es nach Europa geschafft: Flüchtlingskinder in einem Lager auf Lampedusa.

(Foto: REUTERS)

Die Flüchtlingsdramen vor Lampedusa machen deutlich, wie sich Europa gegen Schutzsuchende abschottet. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es auch anders geht. Viele Regierungen profitierten sogar, wenn sie sich großherzig gegenüber Schutzsuchenden verhielten. Vier Beispiele vom osmanischen Sultan bis zur Bundesrepublik Deutschland.

Von Paul Munzinger, Christian Mayer und Joachim Käppner

Vor der italienischen Insel Lampedusa sind Anfang Oktober Hunderte Flüchtlinge ertrunken. Es ist eine Tragödie, die neue Diskussionen über Europas Flüchtlingspolitik entfacht hat. Auch in Deutschland steigen die Asylbewerberzahlen wieder, mancherorts demonstrieren Ausländerfeinde vor Notunterkünften. Die Bundesrepublik hat sich bereit erklärt, 5000 Menschen aus dem umkämpften Syrien aufzunehmen, 5000 von Millionen Flüchtlingen - viel zu wenig aus Sicht humanitärer Hilfsorganisationen. Sie verweisen auf Schweden, das fürs Erste aus humanitären Motiven unbegrenzt syrische Flüchtlinge einreisen lässt.

Das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben: Ein Staat nimmt Massen, Tausende, Zehntausende von Fremden auf, die Opfer von Krieg, Verfolgung oder schierer Not sind. In den meisten Fällen hat die Regierung, die den sicheren Hafen anbietet, damit auch eigene Interessen verfolgt. Dennoch fanden Millionen von Menschen ein neues und besseres Leben - vier Beispiele für den humanen Umgang mit Schutzsuchenden.

Von der Torheit der Könige (1492)

Manche Sätze sind so treffend, dass man sich gar nicht lange mit der Frage aufhalten möchte, ob sie tatsächlich so gefallen sind. Die überlieferte Reaktion des osmanischen Sultans Bayezid II. auf die Nachrichten, die ihn im Jahr 1492 aus Spanien erreichten, ist so ein Satz: "Wie töricht sind die spanischen Könige, dass sie ihre besten Bürger ausweisen und ihrem ärgsten Feind überlassen!"

Durch die Eroberung Granadas im Januar 1492 hatten die "Katholischen Könige" Ferdinand II. und Isabella I. fast acht Jahrhunderte islamischer Herrschaft auf der iberischen Halbinsel beendet. Um das Land von allen "Ungläubigen" zu säubern, ordneten sie die Vertreibung der Juden und später der Muslime an, die sich nicht taufen lassen wollten (den Getauften erging es nachher noch schlechter). Hunderttausende Juden mussten aus dem Land fliehen, in dem sie ein "goldenes Zeitalter" erlebt hatten.

"Sultan Bayezid", so überliefert es der zeitgenössische Chronist Elias Capsali, "hörte also von den Übeln, die der spanische Herrscher den Juden angetan hatte, und erfuhr, dass sie nach einer Zuflucht und einem Hafen suchten.

Er hatte Mitleid mit ihnen und entsandte Boten, die in seinem ganzen Reich verkünden sollten, dass niemand den Juden den Zugang verwehren oder sie ausweisen dürfe." Angeblich soll der Sultan sogar Schiffe nach Spanien geschickt haben, um jüdische und muslimische Flüchtlinge aufzunehmen.

Auf mehrere Zehntausend wird die Zahl der nach ihrer spanischen Herkunft "sephardisch" genannten Juden geschätzt, die dem Ruf des Sultans folgten. Dass dieser nur aus Mitleid handelte, wie von Capsali behauptet, darf bezweifelt werden. Sein Interesse galt dem Geschäftssinn der Flüchtlinge, ihren internationalen Kontakten, ihren Sprachkenntnissen, ihrer Gelehrsamkeit. Und als Juden standen sie nicht im Verdacht, mit den christlichen europäischen Mächten zu sympathisieren.

"Jerusalem des Balkans"

Bayezids Kalkül ging auf. Sepharden dienten den Sultanen als Diplomaten und Leibärzte, verdingten sich in Militär und Verwaltung, trieben für die Herrscher die Steuern ein. Und vor allem schlossen sie das Osmanische Reich an ein engmaschiges europäisches Handelsnetz an. Die Sultane gewährten ihnen Schutz und weitgehende Autonomie, im Gegenzug mussten sie eine Kopfsteuer bezahlen und blieben auch sonst Untertanen zweiter Klasse.

Nicht selten wurden ganze Gemeinden zwangsumgesiedelt, wenn die Herrscher sie anderswo besser gebrauchen konnten. Mit Toleranz, zumal nach heutigem Verständnis, mag das nicht viel gemein haben - besser als das, was die Juden in dieser Zeit in vielen Teilen Europas erdulden mussten, war es allemal.

Neben Konstantinopel, der 1453 eroberten Hauptstadt, entstand das wichtigste sephardische Zentrum des Osmanischen Reichs in Saloniki. "Die verfolgten Juden aus Europa und anderen Ländern suchten hier Zuflucht", schrieb ein jüdischer Dichter im 16. Jahrhundert, "und diese Stadt hat sie so liebevoll und herzlich aufgenommen, als sei sie Jerusalem, unsere ehrwürdige Mutter."

Noch im 19. Jahrhundert bestand mehr als die Hälfte der Bevölkerung Salonikis aus Juden, die einen spanischen Dialekt sprachen. Erst die Nationalsozialisten setzten diesem "Jerusalem des Balkans" ein grausames Ende.

Vom Leid der protestantischen Franzosen

Flucht nach Brandenburg (1685)

Der Präsident war überrascht, auch ein wenig gerührt, als er 1987 Westberlin besuchte. So viel Kultur aus seiner Heimat hatte François Mitterrand im kühlen Deutschland gar nicht erwartet: "Ce lycée est unique au monde" - weltweit einzigartig sei das Französische Gymnasium, in dem das Abitur in französischer Sprache abgelegt wird. Das Lycée Français im Stadtteil Tiergarten ist eine ruhmreiche Institution mit einer mehr als 300-jährigen Geschichte. Es waren die Hugenotten, die in Berlin 1689 ihre eigene Schule gründeten.

Im 16. Jahrhundert begann die Leidensgeschichte dieser französischen Protestanten, die durch das Königshaus in Paris systematisch unterdrückt wurden. Dennoch hatten sich bis zu einem Drittel der Franzosen von der römischen Kirche abgewandt, darunter auch Mitglieder des Hochadels. Die Hugenotten waren Anhänger der calvinistischen Lehre.

Mit mörderischer Gewalt gingen die Herrscher gegen die Reformierten vor. In der Bartholomäusnacht 1572 wurden in Paris Tausende Hugenotten niedergemetzelt. Erst der tolerante König Heinrich IV. gewährte ihnen im Edikt von Nantes 1598 das Recht auf Glaubensfreiheit. Seine Nachfolger nahmen die Verfolgung wieder auf. "Une foi, une loi, un roi", lautete das Credo des Sonnenkönigs Ludwig XIV: Ein Glaube, ein Gesetz, ein König. 1685 wurde das Edikt von Nantes aufgehoben, die Massaker häuften sich.

Viele Menschen sahen nur noch eine Chance: Auswanderung. Die Forschung geht davon aus, dass bis zu 200 000 Menschen Frankreich verließen. In den protestantischen Ländern fanden viele eine neue Bleibe, in den Niederlanden, in England, auch in Deutschland. Vor allem Brandenburg-Preußen bot den Hugenotten eine sichere Heimat.

Die ungehobelten Berliner lernten von den Hugenotten

Kurfürst Friedrich Wilhelm erhoffte sich von den oft gut ausgebildeten "Réfugiés" eine Stärkung der Wirtschaft. 1685 erließ er das Toleranzedikt von Potsdam, ein Dokument, das calvinistischen Flüchtlingen großzügige Privilegien gewährte. Insgesamt nahm das Land 20 000 Hugenotten auf, wobei der Transport der Flüchtlinge sorgfältig geplant und überwacht wurde.

In Berlin waren die Glaubensflüchtlinge bald eine Macht für sich, sie bildeten eine kulturelle Kolonie. Um 1700 war bereits jeder fünfte Berliner ein Hugenotte. Sie profitierten davon, dass Französisch die Sprache der gebildeten Eliten war, aber es gab auch soziale Konflikte mit den Einheimischen. Die Franzosen blieben lange unter sich, auch wenn viele ihrer Bräuche, ihrer Begriffe Teil der Volkskultur wurden.

Vor allem beim Essen lernten die ungehobelten Berliner viel von den stolzen Hugenotten. Französische Wissenschaftler, Seidenweber, Drucker, Uhrmacher, Köche, Apotheker, Ärzte oder Offiziere bereicherten das öffentliche Leben, und die preußischen Herrscher konnten sich auf die Loyalität der dankbaren Neubürger verlassen.

Die Französische Schule in Berlin erinnert heute noch daran, welchen großen Einfluss die Glaubensflüchtlinge hatten - eine Erfolgsgeschichte ist die Zuwanderung der Hugenotten allemal.

Auf dem Weg nach Amerika

"I goes to fight mit Sigel!" (1861)

"Philadephia, 11. November 1860 . . . Diesmal haben die Sklavenhalter eine Schlappe erlitten. Abraham Lincoln wurde als Präsident gewählt. Dieser Mann zeigt, wie weit man es hier bringen kann. Sein Vater war ein einfacher Farmer, und er selber hat auf der Farm gearbeitet, bis er 20 Jahre alt war . . . Ich umarme Dich im Geiste, Otto."

"New York, 11. April 1865. Meine teuerste Anna, endlich, endlich atme ich die Luft der Freiheit. Am 7. des Monats durfte ich Johnsons Island verlassen, schon am 9. bin ich bei Gustav Schmidt in Brooklyn angekommen. . . . So schlafe gut, Anna, und alles, was wir uns erträumten und ersehnten, wird bald Wirklichkeit sein. Mit tausend Küssen von Deinem Robert."

Briefe deutscher Einwanderer an ihre Angehörigen daheim, verfasst zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861 bis 1865). Wohl mehr als fünf Millionen Menschen sind im 19. Jahrhundert von Deutschland in die USA emigriert, die meisten aus wirtschaftlicher Not, viele aber auch als politische Flüchtlinge.

Deutschland verlor seine Elite

Amerika hat sie alle aufgenommen, aus Idealismus wie aus Eigeninteresse: Migranten wurden für den Aufbau der Nation und die riesigen Siedlungsräume gebraucht. Für so viele, die auf schwankenden, überfüllten Schiffen über den Atlantik reisten, war das Ziel der qualvollen Passage die Verheißung: Amerika, das Land, wo jeder Mann eine Chance habe - und ein freier Bürger war.

Deutschland aber verlor seine Besten, seine demokratische Elite. Die "Fortyeighters", die 48er, waren Freiheitskämpfer, die in den Straßen Berlins auf den Barrikaden gestanden, in Schwarzwalddörfern wider die Fürstengewalt zur Flinte gegriffen oder die Festung Rastatt, die letzte Bastion der verlorenen Revolution von 1848/49, gegen die preußische Übermacht verteidigt hatten. Sie alle mussten vor der Rache der Monarchen flüchten, und viele von ihnen strömten in die USA, deren demokratische Staatsform und großzügige Immigrationspolitik einen unwiderstehlichen Sog entwickelte.

Carl Schurz, der durch einen Abwasserkanal gerade noch aus Rastatt entkommen war, brachte es später zum Innenminister der USA. Er schrieb: "Der Amerikaner weiß, dass die Freiheit das beste Erziehungsmittel ist und darin liegt die beste Gewähr für die Republik. Wir in Europa haben noch nicht gesehen, wie sich ein freies Volk in seinem Hause benimmt."

Zehntausende Menschen aus Baden fanden in diesem Hause Zuflucht. Und als die Sache der Freiheit durch die Sezession der südlichen Sklavenhalterstaaten 1861 in Gefahr war, da dankten es der neuen Heimat viele deutsche Immigranten: Fast ausnahmslos kämpften sie auf Seite des Nordens. Sie sangen sogar eine eigene, ihr brüchiges Englisch persiflierende Hymne, zu Ehren des badischen Freiheitskämpfers und Nordstaatengenerals Franz Sigel, der die Deutsch-Amerikaner für den Kampf gegen die Sklavenhalter mobilisierte:

"Dere's only von ting vot I fear,

Ven pattling for der Eagle,

I vont get not no lager beer,

Ven I goes to fight mit Sigel!"

"Es gibt nur eines, was ich fürchte,

wenn ich für den (US-)Adler in die Schlacht ziehe, / Ich bekomme ja kein Lager-Bier,

wenn ich an Sigels Seite kämpfe."

Bürgerkrieg in Jugoslawien

Die Kinder Sarajewos (1992)

Sommer 1995. Eine Tagung im Rheinland, das Thema: Gerechtigkeit, Frieden, Wege aus der Gewalt. Die junge Frau war sehr schön und sehr wütend. Sie sprühte geradezu vor Verachtung - für die Friedensbewegung, die Kirchenleute, die akademischen Referenten, die vor einer Militarisierung der Außenpolitik warnten. Die Frau kam aus Sarajewo, eine bosnische Muslimin. Zu Beginn des Krieges, 1992, war sie serbischen Milizen in die Hände gefallen und hatte Schreckliches erlitten. "Euer Gerede kann meine Familie nicht schützen", sagte sie in betretenes Schweigen hinein.

Sie selbst war ihren Peinigern dann entkommen und hatte in Deutschland Zuflucht vor dem Furor des serbischen Nationalismus gefunden - ausgerechnet in Deutschland, das sich just 1992/93 eine von fremdenfeindlichen Tönen geprägte Asyldebatte leistete und das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt hatte. Dennoch nahm die Bundesrepublik in den folgenden Jahren etwa eine halbe Million Flüchtlinge vom Balkan auf, darunter 350 000 Bosnier.

Immerhin eine sichere Zuflucht

Das waren mehr als doppelt so viele wie in der restlichen EU zusammen. Sie reisten ein als Asylbewerber, Besucher, Illegale, schließlich erhielten sie meist den Aufenthaltsstatus der "Duldung". Das erlaubte kein gutes Leben, aber immerhin eine sichere Zuflucht. Die meisten sind, als der Krieg im November 1995 beendet war, in ihre Heimat zurückgekehrt, einige wurden auch auf rüde Weise abgeschoben.

Manche Deutsche fühlten sich erinnert an die Nachkriegsjahre, als Millionen von Vertriebenen integriert wurden, viele nahmen Anteil und halfen. Selbst die Bild-Zeitung, die sonst gern Stimmung gegen Einwanderer machte, schrieb: "Wer nimmt ein Kind aus Sarajewo auf? Sie lächeln schon wieder, aber in ihren Augen spiegelt sich noch das Grauen des Bürgerkrieges." So bleibt die Bilanz zwiespältig, und sicher ist nur eines: Damals hat dieses Land Herz gegenüber Flüchtlingen gezeigt. Heute fordert sein Innenminister mehr Härte.

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