"German Power":In der EU herrscht nicht Deutschland, sondern Chaos

Wilhelm II., Alfred von Tirpitz und Helmuth von Moltke, 1912 Erster Weltkrieg

Kaiser Wilhelm II. (l.) mit dem Staatssekretär des Reichsmarineamts, Großadmiral Alfred von Tirpitz (M.), und Generalstabschef Helmuth von Moltke im Jahr 1912.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Der britische Politikwissenschaftler Hans Kundnani hat ein Buch über die deutsche Stärke im Wandel der Zeit geschrieben. Und wie sie Europa destabilisiert.

Buchkritik von Rudolf Walther

Der Politikwissenschaftler Hans Kundnani diskutiert in seinem Buch das paradoxe Phänomen, dass das ökonomisch starke Deutschland sein politisches Potenzial weit weniger mobilisiert als sein wirtschaftliches.

Er fasst dieses Paradoxon mit dem Begriff "Halbhegemonie" und verfolgt das Charakteristikum der deutschen Frage in der europäischen Geschichte zwischen der Reichsgründung 1871 und der Gegenwart in sechs chronologisch aufgebauten Kapiteln und einer Zusammenfassung.

Munteres Fabulieren über Deutschlands "Platz an der Sonne"

Der Begriff "Halbhegemonie" stammt vom deutschen Historiker Ludwig Dehio (1888-1963) und bezeichnet die Tatsache, dass das Kaiserreich "nicht mächtig genug" war, "um den Kontinent dem eigenen Willen zu unterwerfen, doch zugleich mächtig genug, um von anderen Mächten als Bedrohung wahrgenommen zu werden".

Aber schon in den Jahren nach 1880 begann in den wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Eliten das, was der Historiker Geoff Eley den "Empire Talk" genannt hat, das heißt das muntere Fabulieren von liberalen Imperialisten, Flottenprofessoren und konservativen Politikern vom "größeren Deutschland" oder vom "Platz an der Sonne".

Das Resultat dieser wilhelminisch-großspurigen Träumerei war, dass sich die Nachbarn vom Aufsteiger Deutschland bedroht fühlten und sich zur Entente (Frankreich-Großbritannien) beziehungsweise zur Triple-Entente (Frankreich-Großbritannien-Russland) formierten und in einen rasanten Rüstungswettlauf eintraten, der 1914 in den Krieg mündete.

Von 1918 bis 1945 sorgte Deutschland in Europa für Unruhe, Instabilität und Krieg. Kundnani, Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund, fasst diese vielfach analysierte und bestens dokumentierte Entwicklung kurz und übersichtlich zusammen.

Die Entwicklung nach 1945 untersucht der Autor als Politik im Spannungsfeld von Realismus und Idealismus. Beide Begriffe sind nicht gerade trennscharf, denn Züge von Idealismus hatte Adenauers Europa- und Westpolitik ebenso wie die Entspannungspolitik von Brandt/Bahr - und auf dem Boden der Realitäten des Wiederaufbaus, der europäischen Einigung und der Abgründe des Kalten Krieges operierten Adenauer wie Brandt/Bahr.

Die der Politikwissenschaft entliehenen Begriffe "Realismus" und "Idealismus" als Chiffren für Politikstile taugen nicht sonderlich für eine konkrete historisch-politische Analyse, wie das folgende Beispiel zeigt: Scheiterte Helmuth Schmidt 1982 am wirtschaftspolitischen Realismus seines Koalitionspartners FDP, der mit dem Lambsdorff-Papier das Ende der Fahnenstange verkündete, oder am pazifistischen Idealismus der Friedensbewegung, der bewirkte, dass auf dem SPD-Parteitag 583 Delegierte Schmidts "Raketenlücke" für völlig irreal hielten?

"German Power": Hans Kundnani:  German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2016, 207 Seiten, 18,95 Euro. E-Book: 14,99 Euro.

Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2016, 207 Seiten, 18,95 Euro. E-Book: 14,99 Euro.

Dieselbe Unschärfe wie Realismus/Idealismus enthalten geopolitisch inspirierte Leitartikelfloskeln wie "Mittellage" und "Randlage". Nicht das Meer verlangt von Küstenstaaten eine Schlachtflotte, sondern deren politisch-wirtschaftlich-militärisch bedingte Interessen.

Der Widerstand aus London und Paris gegen die deutsche Einheit richtete sich nicht gegen die geografisch neuen Begebenheiten nach der Osterweiterung des Landes, sondern gegen das schlagartig vergrößerte wirtschaftliche (virtuell politisch und militärisch nutzbare) Potenzial durch 17 Millionen Neubürger.

Gegen eine national kostümierte "Normalisierung" beziehungsweise "Nationalisierung" machten maßgebliche Intellektuelle wie Jürgen Habermas nach 1989 entschieden Front und plädierten für eine Neugründung der Republik nach Artikel 146 Grundgesetz und gegen den Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz, weil damit gleich die ganze Vergangenheit und "das Trauma der Massenverbrechen" entsorgt oder endgelagert werden sollten.

Der Albtraum einer umfassenden Renationalisierung der Bundesrepublik blieb aus, aber dank der gestiegenen ökonomischen und politischen Bedeutung des Landes setzte bald eine "schleichende Militarisierung" (Habermas) der Außenpolitik ein. Ausgerechnet Joschka Fischer, der spätere Außenminister, trieb die Partei der Grünen, die vielen als Garant der "Zivilmacht" des Landes galt, mit windigen Argumenten zur Militarisierung der Außenpolitik. Mit der Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg im Kosovo wurde das Land zu einer "anderen Republik" umdekoriert, schrieb Theo Sommer in der Zeit.

Der Autor geht sogar so weit, über eine deutsche Instabilitätskultur nachzudenken

Zum destabilisierenden Faktor in Europa wurde aber die Bundesrepublik nicht durch die Mithilfe bei Militärinterventionen in alle Richtungen, sondern durch seine wachsende Wirtschafts- und Finanzkraft. Im Anschluss an den amerikanischen Ökonomen Charles Kindleberger bekennt sich der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble offen zur rabiaten Theorie, wonach nur Hegemonie Stabilität garantiere.

Im Namen dieser Theorie setzte Deutschland eine Austeritätspolitik durch, die die Lage der armen und bei den reichen Ländern verschuldeten Staaten und Banken des Südens der EU verschärft und für Instabilität sorgt. Kundnani "ist beinahe versucht, von einer deutschen ,Instabilitätskultur' zu sprechen".

Die Bundesrepublik übernahm die Rolle eines altfränkischen Schulmeisters in der EU, aber es fehlt ihr der Wille, auch die Lasten eines Hegemons (Fiskaltransfer, Vergemeinschaftung von Schulden, gemäßigte Inflation) zu tragen. Insofern herrscht in der EU - so Kundnani - nicht Deutschland, sondern Chaos, Spannungen und Konflikte. Das kann antideutsche Koalitionen der gefährlichen Art provozieren. Diesem Fazit des Autors ist sicher zuzustimmen.

Ob die komplexe wirtschaftliche und politische Konstellation in der EU mit den Begriffen "Hegemonie", "Halbhegemonie" und "geoökonomische Macht" ausreichend differenziert beschrieben werden kann, ist allerdings fraglich. Angesichts der Flüchtlingskrise erweisen sie sich auf jeden Fall als hoffnungslos unterkomplex und tendenziell zynisch.

Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband "Aufgreifen, begreifen, angreifen" erschien 2014 im Oktober Verlag.

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