Zuerst die guten Nachrichten: Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben nach eigenen Angaben ihre Pünktlichkeit im vergangenen Jahr von 92,5 Prozent auf 93,2 Prozent steigern können! Die Anschlusspünktlichkeit betrage gar 98,7 Prozent und auch die Kundenzufriedenheit sei immerhin „hoch“. Lediglich die Westschweiz liege mit einer Pünktlichkeit von nur 91,9 Prozent um 0,1 Prozent unter der angestrebten Zielmarke. Gründe dafür, dass in der Schweiz überhaupt noch ein Zug zu spät ankommt, sind laut SBB das Wetter, Baustellen sowie „die schlechte Qualität des eingehenden internationalen Personenverkehrs“, was man als lieben Gruß in Richtung Deutschland interpretieren darf.
Diese Zahlen und das Selbstbewusstsein, das sie stützen, sind umso erstaunlicher, wenn man bedenkt: Die Schweiz steht eigentlich in dem Ruf, dass dort alles, insbesondere politische Prozesse, etwas länger dauern als anderswo. Niemand Geringeres als Albert Einstein, der bekanntlich einen Teil seiner Jugend in Zürich verbrachte und dort auch das Studium begann, soll einmal gesagt haben, wenn die Welt untergehe, dann wäre er gerne in der Schweiz, denn da passiere alles etwas später. (Eigentlich ein gut getarntes Kompliment.)
Die Staatsanwaltschaften sind überlastet, viele Gerichte auch
Wenig Sorgen machen muss sich derzeit in der Schweiz aber nicht nur, wer den Weltuntergang fürchtet, sondern auch, wer ein Gerichtsurteil erwartet. Das sind jetzt die schlechten Nachrichten: Bereits 2023 ergaben Recherchen des Tages-Anzeigers (TA), der auch mit der SZ kooperiert, dass bei Schweizer Staatsanwaltschaften mehr als 100 000 offene Fälle lägen. Neue, am Dienstag veröffentlichte Zahlen zeigen nun, dass auch bei den Gerichten, die nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaften aktiv werden sollten, mehr als 17 000 Fälle offen seien – teilweise seit Jahren oder in extremen Fällen sogar seit Jahrzehnten. Tendenz steigend. Vielerorts sind die Kapazitätsgrenzen erreicht.
Das lässt nicht nur Kläger und Angeklagte unnötig lange im Unklaren. Selbst bei schweren Verbrechen wie Vergewaltigung oder Körperverletzung führen die teils jahrelang verschleppten Verfahren oft zu einer Strafreduktion. Dazu kommt der pädagogische Aspekt des Gerichtsurteils, der seine Wirkung verliert, je weiter Tat und Strafe auseinanderliegen. „Man kann doch einen Menschen nach acht oder gar vierzehn Jahren seit der Tat nicht ins Gefängnis stecken und glauben, das habe auf ihn oder auf die Gesellschaft, abgesehen von den enormen Kosten, noch irgendeine Wirkung“, sagt Strafverteidiger Konrad Jeker in einem Interview mit dem TA. Im schlimmsten Fall kann ein sich scheinbar endlos hinziehendes Verfahren bei den Beteiligten sogar das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben.
Gründe für diese langen Verfahren sind unter anderem fehlendes Personal, eine wachsende Bevölkerung, immer komplexere Fälle und insgesamt mehr Klagen. Jeker sieht den Fehler aber auch im Schweizer System, in dem die Staatsanwaltschaften „alle denkbaren Beweise schon im Vorverfahren“ erheben, um erst dann „den Gerichten ein spruchreifes Dossier zu präsentieren“. Als Vorbild für eine Reform schlägt er eine Mischung aus britischem und deutschem System vor. Dort ist man in der Regel einfach schneller.