Süddeutsche Zeitung

Gerichtsurteil zu Drei-Prozent-Hürde bei Europawahl:Hoffnung der Kleinen

Kippt Karlsruhe die Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen? Mehrere Parteien haben geklagt und rechnen sich nun gute Chancen aus. In einem früheren Urteil hat das Verfassungsgericht zwar deutlich gemacht, wie kritisch es Sperrklauseln sieht. Ein Selbstläufer wird die Verhandlung trotzdem nicht.

Von Wolfgang Janisch

Zu Beginn jeder Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts wird die Anwesenheit festgestellt, und an diesem Mittwoch wird sich das ungefähr so anhören, als läse Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle die untere Hälfte eines Wahlzettels vor. Freie Wähler und ÖDP finden sich auf der langen Klägerliste, ebenso Die Freiheit, Christen für Deutschland, Piraten und Graue Panther, auch NPD und Republikaner - Kleinparteien also, vereint in einem gemeinsamen Ziel: Sie wollen bei der Wahl Ende Mai ins Europaparlament einziehen. Und das Bundesverfassungsgericht soll ihnen dabei helfen.

Die Kleinparteien wenden sich gegen die druckfrische Drei-Prozent-Klausel, im Oktober nahezu einhellig vom Bundestag beschlossen, nur die Linke war dagegen. Die neue Hürde auf dem Weg ins Europa-parlament wurde aufgestellt, nachdem Karlsruhe ein noch höheres Hindernis abgeräumt hatte: Am 9. November 2011 erklärte das Gericht, wenn auch knapp mit fünf zu drei Stimmen, die Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen für nichtig - die Bahn für ÖDP & Co. war also frei. Bis vor zwei Monaten.

Die Bedeutung des Wortes "Normwiederholungsverbot"

Wer nun die gut 40 Seiten von damals aufmerksam liest, wird viele Anhaltspunkte dafür finden, dass Karlsruhe - ganz im Trend der Rechtsprechung etwa zu den Kommunalparlamenten - Sperrklauseln fürs Europaparlament generell für unzulässig hält: Die Zunahme von Parteien, "die nur mit einem oder zwei Abgeordneten vertreten sind", könne die Hürde nicht rechtfertigen, überhaupt fehle es "an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen", argumentierten die Richter.

Tatsächlich hegen die juristischen Vertreter der Kläger - unter ihnen der Speyerer Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim - die Hoffnung, der Zweite Senat könnte seine Begründung von damals per copy & paste ins neue Urteil einfügen. Genährt wird diese Hoffnung dadurch, dass sich am Beginn der Verhandlungsgliederung das Wort "Normwiederholungsverbot" findet: Der Zweite Senat will prüfen, ob der Gesetzgeber gleichsam den Verfassungsgehorsam verweigert hat, indem er das für nichtig erklärte Gesetz neu aufgelegt hat, wenn auch mit anderer Hausnummer.

Die Hoffnung der Kläger dürfte aber trügerisch sein. Nach allem, was aus dem Gericht zu hören ist, will man sich mit diesem Gliederungspunkt nicht lange aufhalten. Der Senat nimmt die Sache zu ernst, um sich an einer angeblichen Unbotmäßigkeit des Bundestags abzuarbeiten.

Beim Wahlrecht liegen Karlsruhe und Berlin seit Jahren im Clinch. Schon 2008 hatten die Richter eine Reform angeordnet. Das Gericht setzte seinerzeit eine großzügige Drei-Jahres-Frist, die der Gesetzgeber aber überschritt - um dann ein wenig überzeugendes Ergebnis abzuliefern.

Im Juli 2012 kippte das Gericht auch das neue Wahlrecht und formulierte eine Obergrenze für Überhangmandate - nicht mehr als 15 sollten erlaubt sein. Das hielt man wiederum in Berlin für einen Übergriff ins Terrain des Gesetzgebers: Die Zahl 15 sei "willkürlich" gegriffen, hieß es aus der CDU.

Drei Prozent sind nicht fünf Prozent, gut. Für die Verhandlung heißt das erst einmal nur, dass alles wieder offen ist. Die entscheidende Frage ist, ob das Europaparlament weitere Miniparteien verträgt, ohne seine Funktionsfähigkeit einzubüßen. 2011 hatte der Senat festgestellt, die Mehrheitsbildung im Europaparlament könne zwar durch den Einzug weiterer Parteien "erschwert" sein - eine Sperrklausel rechtfertige dies aber nicht.

Drei Faktoren sprechen für den Erfolg

Da wird man vermutlich noch einmal neu nachdenken. Unter anderem deshalb, weil sich das Europaparlament 2012 selbst mit einer Entschließung für "geeignete und angemessene Mindestschwellen" ausgesprochen hatte. Was aber trotz alledem für die Erfolgschancen der Kläger spricht, sind drei starke Argumente aus dem Urteil von 2011.

Erstens: die Offenheit des politischen Prozesses. "Dazu gehört, dass kleinen Parteien die Chance eingeräumt wird, politische Erfolge zu erzielen. Neue politische Vorstellungen werden zum Teil erst über sogenannte Ein-Themen-Parteien ins öffentliche Bewusstsein gerückt", schrieb der Senat damals.

Zweitens: Die Sperrklausel verzerrt den Wählerwillen. Bei der Europawahl waren 2,8 Millionen Stimmen der damaligen Fünf-Prozent-Sperre zum Opfer gefallen, immerhin zehn Prozent der deutschen Wähler. Daraus resultierten acht Sitze, die denen zufielen, die nun die neue Klausel beschlossen haben - Union, SPD, FDP und Grünen.

Daraus folgt das dritte Argument: Beim Wahlrecht entscheiden die Parteien immer auch in eigener Sache. Deshalb kontrolliert das Gericht solche Gesetze besonders streng: Es bestehe die Gefahr, dass sich die Parlamentsmehrheit "vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1845452
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.12.2013/resi
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.