Gerichtsurteil in Rom:Deutschland soll für Nazi-Massaker zahlen

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Nach dem Grundsatzurteil eines römischen Gerichts werden Tausende Prozesse erwartet. Für das Auswärtige Amt ist das inakzeptabel.

Stefan Ulrich

Die Menschen des toskanischen Ortes Civitella wähnten sich in Sicherheit am Morgen des 29. Juni 1944. Zwar hatten Partisanen zehn Tage vorher in der Gegend drei deutsche Soldaten getötet. Die deutschen Besatzer aber schienen in diesem Fall auf einen Racheakt an der Zivilbevölkerung zu verzichten. So waren die zunächst geflüchteten Bewohner wieder nach Hause zurückgekehrt.

Eine Skulptur erinnert an die Opfer der Nazi-Besatzer im toskanischen Ort Sant'Anna di Stazzema. Für solche Massaker soll der deutsche Staat nun Entschädigung zahlen. (Foto: Foto: AP)

Nun aber, gegen sechs Uhr Morgens, rückten deutsche Truppen heran. Sie umzingelten Civitella und einige Weiler der Umgebung, erschossen Männer, Frauen und Kinder. Sogar in die Kirche drangen die Verfolger ein, holten die Männer heraus und töteten sie mit Genickschüssen, auch den Pfarrer. Insgesamt erlagen mehr als 200 Menschen dieser sogenannten "Vergeltung".

Auch Deutschland muss für die Schuld einstehen

Ende 2007, also mehr als 63 Jahre später, verurteilte ein Militär-Berufungsgericht in Rom den einstigen deutschen Unteroffizier Max Josef M. wegen des Massakers von Civitella in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Außerdem sprach es einigen Angehörigen der Opfer, die als Nebenkläger aufgetreten waren, eine Entschädigung von einer Million Euro zu.

Zugleich bestimmte das Gericht, nicht nur Max Josef M., sondern auch Deutschland müsse für diese Schuld einstehen. Die Bundesregierung ging dagegen in Revision vor den Kassationsgerichtshof in Rom, der dem deutschen Bundesgerichtshof entspricht. Dieser erließ jetzt ein spektakuläres Urteil, das von den Medien und Experten in Italien am Mittwoch als "historische Entscheidung" begrüßt wurde: Deutschland muss für die Nazi-Massaker in Italien zahlen.

Das Urteil ist rechtskräftig. Seine Folgen sind unabsehbar. Beobachter schätzen, dass in Italien nun mehr als zehntausend ähnliche Klagen von Opfer-Angehörigen eingereicht werden. Zudem stärkt die Entscheidung die Rechtsstellung der Familien von etwa 600.000 Italienern, die einst zur Zwangsarbeit ins Dritte Reich verschleppt worden waren.

Weg frei für eine Klagewelle

Das Kassationsgericht hat in Zwangsarbeiterfällen schon früher befunden, Deutschland könne deswegen vor italienischen Zivilgerichten auf Schadensersatz verklagt werden. Zudem hatte der Gerichtshof bestimmt, Nazi-Opfer aus dem griechischen Ort Distomo dürften in deutsches Eigentum in Italien vollstrecken.

Nunmehr haben die Richter in Rom diese Prinzipien auf Nebenklagen in Strafprozessen ausgeweitet. Antonio Cassese, der frühere Präsident des Internationalen Jugoslawien-Tribunals, meint dazu: "Deutschland ist zu Recht besorgt, dass dieses Urteil den Weg für eine unendliche Serie anderer Klagen freimachen wird."

Dennoch teilt er die Rechtsauffassung des Kassationsgerichtshofs. Sie entspreche der Kultur der Menschenrechte, die die Übermacht der Staaten begrenzen wolle. "Warum sollte man einem Eichmann den Prozess machen dürfen, nicht aber dem deutschen Staat, dessen Organ Eichmann war?", fragt Cassese.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Bundesregierung auf das Urteil reagieren wird und warum auch die italienische Regierung mit der Entscheidung nicht glücklich ist.

Ebenso sehen das viele italienische Kommentatoren und die Opferangehörigen. "Das Urteil des Kassationsgerichtshofs verschafft uns eine enorme moralische Befriedigung", meint etwa der Opferanwalt Roberto Alboni, dessen Großvater in Civitella getötet wurde.

Er kündigte an, alles zu unternehmen, um das Schadensersatzurteil gegen die Bundesrepublik zu vollstrecken: "Wir werden auch das Hab und Gut Deutschlands, das sich in Italien und anderswo befindet, pfänden." Wenn Berlin das Urteil des Kassationsgerichts nicht akzeptiere, dann sei das "grotesk und beleidigend".

Der Anwalt Augusto Dossena, der die Bundesrepublik vertrat, meint dagegen: "Deutschland wird, wie schon bisher, keinerlei Entschädigung leisten." Berlin könne das Urteil nicht anerkennen, da es gegen das Prinzip der Staatenimmunität verstoße. Daraus folgt, dass sich Staaten nicht vor den Gerichten anderer Staaten verklagen lassen müssen. Darauf berief sich die Bundesregierung bislang erfolgreich in Verfahren wegen Nazi-Verbrechen in vielen Ländern.

Nur der Kassationsgerichtshof schere aus, kritisierte Dossena. Die Richter argumentieren, bei schwersten Menschenrechtsverletzungen könne sich ein Staat nicht auf Immunität berufen. Das Urteil werde aber folgenlos bleiben, glaubt der Anwalt. Die deutschen Immobilien in Italien dienten hoheitlichen Aufgaben. Daher könne in sie nicht vollstreckt werden.

Zurück zum punischen Krieg

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes nannte die Gerichtsentscheidung "nicht akzeptabel". Die Bundesregierung werde die Angehörigen nicht einzeln entschädigen. Es sei unbestritten, dass von Deutschen grausamste Verbrechen in Italien begangen worden seien. "Die Bundesrepublik bekennt sich zu der moralischen Verantwortung." Er verwies jedoch auf das deutsch-italienische Globalabkommen von 1961, das in Entschädigungen von damals 40 Millionen Mark mündete. Die Bundesregierung wird wohl versuchen, politisch zu intervenieren, etwa bei den deutsch-italienischen Konsultationen im November in Triest.

Auch die italienische Regierung ist mit den Entscheidungen des obersten Gerichtshofes in Rom zur Staatenimmunität unglücklich. Sie fürchtet solche Präzedenzfälle. Schließlich könnte auch Italien wegen kolonialen Unrechts und Kriegsverbrechen etwa einst in Nordafrika belangt werden.

Außenminister Franco Frattini sagte unlängst der Süddeutschen Zeitung: "Wenn die Gerichte von Fall zu Fall entscheiden, ob einem Staat Immunität zukommt, wird das Prinzip der Staatenimmunität unberechenbar. Die Welt braucht aber Rechtssicherheit. Sonst gerät alles aus den Fugen." So sehen das offenbar viele in der italienischen Regierung. Staatssekretärin Michele Brambilla warnte am Mittwoch, das Urteil werde weltweit eine "Kettenreaktion" und "Klagelawine" auslösen, "von Hiroshima bis zu den Punischen Kriegen".

© SZ vom 23.10.2008/liv - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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