Dass Politik mit Bildern gemacht wird, dass das ganze schwammige Ding namens Gesellschaft sich in Bildern über sich selbst verständigt, das ist uns heute bis zum Überdruss vollkommen selbstverständlich. Inmitten der größten Bildermaschine der Weltgeschichte fragt sich jetzt eher, welche Bilder der Gegenwart trotz des ganzen Durchlaufs überhaupt noch Wirkung erzielen, im Gedächtnis bleiben, „ikonisch“ werden. Bitte mal kurz anhalten: Ist es Angela Merkels Selfie mit einem Geflüchteten? Sind es die Bilder von Fluten, Stürmen, Waldbränden, die wir irgendwann im Geiste zu einem einzigen Epochenbild zusammensetzen?
Der Historiker Gerhard Paul, der lange als Professor in Flensburg lehrte, hat sich schon deutlich vor dem Smartphone und Instagram mit der „Visual History“ befasst. Er gehört zu denen, die frühzeitig öffentliche Bilder in Politik, Werbung und Kultur „nicht einfach nur als Abbildungen“ der Zeitgeschichte betrachtet haben, wie er schreibt, „sondern auch als aktive Medien, die Einstellungen verstärken, mitprägen oder sogar eigene Handlungswelten erzeugen“.
Die Flüchtigkeit des Weiterwischens
Dass sich Bildhunger und Bildinflation in der digitalen Ära immer weiter steigern und kein Ende finden, heißt zwar nicht, dass jener Ansatz inzwischen banal oder unwichtig geworden wäre. Die Bildpolitik braucht gerade heute wache Beobachter. Aber man merkt Gerhard Pauls „visueller Geschichte“ der Bundesrepublik, die er jetzt zum Republikjubiläum als großes Resümee vorgelegt hat, schon stark an, dass die Macht des einzelnen Bildes über die Jahrzehnte abgenommen hat. Auch wenn der Autor den Medienwandel selbst erörtert, wirkt alles je näher an der Gegenwart, desto beliebiger, diffuser, und der stillstellende Effekt des Mediums Buch steht in zunehmendem Kontrast zur Flüchtigkeit der Pics und Videos und des Weiterwischens.
Trotzdem ist dieser – natürlich reich bebilderte – Band ein imposantes Kompendium mit vielen interessanten Beobachtungen und Analysen. Man begegnet früheren Nazi-Fotografen, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder bebildern – Hanns Hubmann, der 1970 Willy Brandts historischen Kniefall in Warschau fotografierte, war einer von ihnen, nach eigener Behauptung aber „ein völlig unpolitischer Mensch“. Man erlebt den Aufstieg des Fernsehens, die gesellschaftlichen Veränderungen in Film, Kunst und Pop, den „Übergang vom Versorgungs- zum Erlebniskonsum“ in den Achtzigerjahren, die zunehmend apokalyptischen Darstellungen von Öko-Katastrophen, die mal raffinierte, mal unbeholfene Selbstdarstellung von Regierungspolitikern, die neuen Bildstrategien von Terror und Krieg.

Auf dem Weg von der Bonner zur „Ampelrepublik“ beschreibt Gerhard Paul zuverlässig das Bunte wie auch das Biedere all dessen, worin dieses Land sich sichtbar macht. Oft zeigte es sich betont harmlos, mitunter gab es aber auch „Schockbilder“, die die Politik beeinflusst haben – etwa beim RAF-Terror, im Kosovo-Krieg, beim Atomausstieg nach Fukushima oder in der Corona-Bekämpfung nach den Bildern aus Bergamo. In den einordnenden Texten zur jüngeren Zeit erlaubt sich Gerhard Paul ein paar Ausrutscher – etwa wenn er altväterlich die „politische Korrektheit“ kritisiert oder sich über die Unterstützung der Ukraine lustig macht. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn es gibt ja noch: die Bilder. Weitere Kapitel in der (KI-)Zukunft werden dann allerdings noch stärker davon handeln müssen, dass man ihnen, den Bildern, immer weniger trauen kann.