Schon seit 1999 gab es in der SPD Widerstand gegen die Schröder-Linie: Der damalige saarländische Ministerpräsident Reinhard Klimmt klagte in einem Brief an den SPD-Bundesvorstand im Juli 1999, aus der "harmonischen Verbindung von Innovation und Gerechtigkeit" sei "die Gerechtigkeit ausgemustert" worden. Merkel hat jüngst diese alte SPD-Formel von "Innovation und Gerechtigkeit" wieder aufgegriffen, um damit ihren Konkurrenten Schulz zu kritisieren und ihm eine "überholte Vorstellung von der Gerechtigkeit" vorzuwerfen. Wolfgang Thierse, damals Bundestagspräsident, plädierte schon im September 1999 dafür, das Thema soziale Gerechtigkeit "von der PDS zurückzuholen". Und als Hans-Jochen Vogel im Jahr 2011 85 Jahre alt wurde, war sein Geburtstagswunsch an seine SPD, die soziale Gerechtigkeit wieder ernster zu nehmen: "Ich bin für die Wiedereinführung der Vermögensteuer, um die Schere zwischen Arm und Reich etwas zu schließen." Er traute offenbar der bloßen Gerechtigkeitsrhetorik nicht.
Die Vermögensteuer kann das Thema sein, an dem sich die Geister scheiden
Sechs Jahre später will Martin Schulz ihm diesen Wunsch erfüllen; aber seine Partei eiert noch ziemlich herum. SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel ist dagegen, er redet zwar von einer "stärkeren Beteiligung von riesigen Vermögen, um beispielsweise Investitionen in Schulen und Kitas bezahlen zu können". Aber auf welchem Weg das zu erreichen ist, soll erst noch "im Steuerkonzept" festgelegt werden. Im Wahlprogramm der NRW-SPD steht die Vermögensteuer. Die SPD-Linke will sie selbstredend auch, dazu eine Reform der Erbschaftsteuer und einen höheren Spitzensteuersatz. Die CDU und CSU dagegen wollen die Vermögensteuer partout nicht. Horst Seehofer hat "die größte Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik" angekündigt, von einer "Agenda 2025" ist auch schon die Rede.
Es kann also gut sein, dass sich das gefällige Reden über soziale Gerechtigkeit dann, wenn es in ein paar Wochen konkret wird, nicht mehr so gefällig ausnimmt. Die Vermögensteuer kann das Thema sein, an dem sich die Geister scheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vermögensteuer nicht, wie häufig behauptet, 1995 für verfassungswidrig erklärt. Es hat lediglich erklärt, dass diese Steuer aus verfassungsrechtlichen Gründen nur an die möglichen Vermögenserträge anknüpfen dürfe. Ansonsten würden Steuerpflichtige mit Geldvermögen gegenüber Grundeigentümern benachteiligt, weil Immobilien nicht mit dem Verkehrswert, sondern mit dem viel niedrigeren Einheitswert besteuert werden. Das Gericht setzte dem Gesetzgeber zur Behebung dieser Ungleichheit eine Frist bis Ende 1996. Der setzte jedoch die Erhebung der Vermögensteuer einfach aus. Dabei ist es bis heute geblieben.
Georg Cremer, der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes befürchtet, dass im Wahlkampf vorrangig die Gerechtigkeitsthemen der Mitte angesprochen und die Belange der Armen rhetorisch missbraucht würden. Das Problem des deutschen Sozialstaats sei es nicht, dass notwendige Hilfen verweigert, sondern dass er das Entstehen von Notlagen nicht verhindert. Dazu aber ist der aktuellen Gerechtigkeitsrhetorik noch nicht so viel eingefallen. Es geht nicht darum, mit dem Wort Gerechtigkeit zu klappern, sondern Gerechtigkeit als Schlüssel zu nutzen und denen die Türen aufzuschließen, die ausgeschlossen sind - von guter Bildung, von guter Wohnung, vom guten Lebensabend, von guter Pflege und von gutem Lohn.