Schon lange ging es nicht mehr so gerecht zu in Deutschland wie heute - verbal jedenfalls. Wer Martin Schulz hört und die Reaktionen der politischen Konkurrenten, wer die Wahlprogramme der Parteien liest oder die Entwürfe dazu, wer die TV-Talkshows sieht, der hat den Eindruck: Lange ist in Deutschland nicht mehr so viel von sozialer Gerechtigkeit geredet worden wie heute.
Das stimmt aber nicht: Bereits 2005, im Wahlkampf also, der Kanzler Schröders Agenda 2010 folgte, war "gerecht" eines der beliebtesten Adjektive. Und als im August 2007 die große Finanzkrise begann, wurde das Wort noch beliebter. Das heißt: Das Reden von der Gerechtigkeit stand schon am Beginn der Ära von Angela Merkel, die seit 2005 regiert. Im Grundsatzprogramm der CDU von 2007 ist die Gerechtigkeit ein schwarzer, im Grundsatzprogramm der SPD von 2007 ist sie der große rote Faden, allerdings noch nicht so oft in der Wortkombination "soziale Sicherheit" wie heute beim SPD-Kanzlerkandidaten. Er proklamiert eine "Zeit für mehr Gerechtigkeit". Die neue Parole ist - die alte.
In Frankreich ist der rechte Front National bereits die größte Arbeiterpartei geworden
Was also hat sich eigentlich geändert im Wahlkampf von 2017? Es sind zwei Dinge. Erstens: Diesmal sind, anders als früher, die Kassen des Staates voll; es gibt Haushaltsüberschüsse in Milliardenhöhe, die für kostenlose Bildung, Kita-Plätze oder Steuersenkungen verwendet werden können; das wäre die Konkretisierung der sozialen Gerechtigkeit. Und zweitens: Es gibt eine Partei, die AfD, die es in den früheren Wahlkämpfen noch nicht gab. Die AfD wird der sogenannten rechtspopulistischen Bewegung in Europa zugerechnet, die sich an die kleinen Leute wendet und ihnen verspricht, dass sie wieder mehr gehört, gesehen und beachtet werden - und die dieses Versprechen mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit verbindet.
In Frankreich haben die Rechtspopulisten der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen damit schon großen Erfolg. Ihre Partei, der "Front National", ist die größte Arbeiterpartei geworden; sie hat viele Wähler angezogen, die früher die linken Parteien und die Gewerkschaften für sich reklamierten. Das bringt in Deutschland die SPD unter ihrem neuen Vorsitzenden Martin Schulz dazu, die alten Schlüsselwörter der Sozialdemokratie wieder mit neuer Leidenschaft zu rufen: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit. Schulz gilt, anders als Sigmar Gabriel, der das zuvor vergeblich versucht hatte, als homo novus und glaubwürdig; das erklärt die ansteckende Begeisterung über ihn in der SPD. In der Union hätte der alte Stratege Heiner Geißler gern, dass der Schlachtruf "Freiheit oder Sozialismus" (das war die Parole der CDU im Wahlkampf von 1976) nun umgewandelt wird in "Kapitalismus oder Solidarität". Diese Formulierung sei nun allerdings, wie er bedauert, nicht von seiner Partei, sondern von Sahra Wagenknecht von der Linken aufgegriffen worden.
Wenn Gerechtigkeit eine Tugend ist, die jedem das gibt, was ihm gebührt, wem gebührt dann ein Wahlsieg? Dem besten Rhetoriker? Gerechtigkeitsrhetorik hat der Wähler nun schon sehr lange gehört. Es geht nun um den praktischen Umgang mit Schlüsselwörtern, die nicht umsonst so heißen: Wenn man sie nur wie einen alten Schlüsselbund an den Gürtel hängt, dann sind sie erst einmal Klapper- und Klackerwörter. Geräusche zu machen ist aber nicht die Funktion von Schlüsseln. Wichtig ist, ob man damit Türen aufsperrt und welche Türen es sind. Gerhard Schröder hat die Gerechtigkeits-Wörter durchaus benützt, sie aber zur Dekoration einer ganz anderen Politik verwendet, die auf das "einwandfreie Spiel der Marktkräfte" vertraute (so das Schröder-Blair-Papier von 1998) und die soziale Gerechtigkeit an den Markt delegierte. Schröder betrieb, so seine Kritiker, den sozialdemokratischen Anschluss an das globale neoliberale Projekt.