Gerd Ruge im Gespräch"Russland ist unorganisiert"

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Er war 1956 der erste westdeutsche Korrespondent in Moskau: Gerd Ruge über die Machtverteilung im Kreml, das Verhältnis von Wladimir Putin zu Schröder und Bush - und Barack Obama.

Matthias Kolb

Gerd Ruge ging 1956 als erster westdeutscher Korrespondent in die Sowjetunion. Später berichtete er aus den USA und China; er leitete das Moskauer ARD-Studio und war Chefredakteur des WDR. Der 80-Jährige reist regelmäßig nach Russland, um Filme zu drehen. Sein aktuelles Buch erschien in der Reihe "Die Deutschen und ihre Nachbarn".

Der russische Präsident Dmitrij Medwedjew (links) und sein Vorgänger, Regierungschef Wladimir Putin.
Der russische Präsident Dmitrij Medwedjew (links) und sein Vorgänger, Regierungschef Wladimir Putin. (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Herr Ruge, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie, die Geschichte der Beziehungen zwischen Russen und Deutschen sei "geprägt von geringer Kenntnis und großen Illusionen." Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Gerd Ruge: In den letzten beiden Jahrhunderten gab es große, etwas schwammige Bewunderung für die russische Seele, auch Hoffnungen auf die menschlichen Qualitäten der Russen. Die Deutschen glaubten auch, die Russen würden sie sehr bewundern, was nicht ganz stimmt - der berühmte Spruch "die Deutschen haben den Affen erfunden" ist nicht nur ein Kompliment. Es gab mehr Spannungen als gedacht und im 20. Jahrhundert brachen sie aus: Die Grausamkeiten während der Weltkriege waren enorm.

sueddeutsche.de: In der Wahrnehmung wiederholen sich Vorurteile: Dem tüchtigen und ordentlichen Deutschen steht der feierlustige, chaotische und emotionale Russe gegenüber.

Ruge: Ja. Unter deutschen Konservativen existierte auch eine Russlandbegeisterung mit dem Gefühl, dass Deutsche und Russen besser zusammenpassen würden als etwa Deutsche mit Amerikanern oder Engländern in ihren aufgeweichten Demokratien - das galt noch in der Nazizeit. Andererseits: Deutsche Technik wurde damals auch in Russland und der Sowjetunion geschätzt.

sueddeutsche.de: Sind diese Bilder heute noch weitverbreitet?

Ruge: Ja, weniger unter den Politikern und Journalisten, aber viele Deutsche denken noch immer an diese berühmte russische Seele. Auch die Kriegsgefangenen erinnern sich an die Herzlichkeit und Freundlichkeit der Bevölkerung. Diese Betonung des Emotionalen ist nichts Schlechtes, aber wenn es die Politik beeinflusst, dann muss man vorsichtig sein. Politik folgt auch in Moskau rationalen Überlegungen.

sueddeutsche.de: Wer hat dort momentan das Sagen: Ministerpräsident Wladimir Putin oder Dmitrij Medwedjew, der laut Verfassung als Präsident der mächtigste Mann ist?

Ruge: Eindeutig Putin. Ein Mann wie er überlässt nicht mit Mitte 50 seinem Assistenten die Macht. Man konnte schon die Rangfolge früh sehen: Wenn Putin eine Lagebesprechung abhält, kommt Medwedjew dazu. Als Putin noch Präsident war, ging er nie zu Besprechungen seines Regierungschefs. Das sind Kleinigkeiten, aber sie sind wichtig. Man hat es ja auch gesehen, wie sich Putin im Georgien-Krieg inszeniert hat. Medwedjew ist ein interessanter Mann und sicher keine Marionette im klassischen Sinn, aber die Macht ist doch klar verteilt.

sueddeutsche.de: Haben Sie Putin kennengelernt?

Ruge: Ja, das erste Mal 1999, da war er erst seit kurzem Ministerpräsident und verhielt sich noch unsicher, vorsichtig und beengt in seiner Argumentation. 2007 konnte ich mit anderen Experten zweieinhalb Stunden mit ihm diskutieren. Da hat er mich beeindruckt, weil er präzise, intelligent und mit Sachkenntnis auf alle Fragen zu allen Themen antwortete.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, weshalb sich das Image von Wladimir Putin in Deutschland so verschlechtert hat.

sueddeutsche.de: In Ihrem Buch schildern Sie Putins Aufstieg und die Reaktionen in Deutschland. Als er vor dem Bundestag 2001 auf Deutsch eine Rede hielt, erinnerte Sie das an die Begeisterung für Michail Gorbatschow. Warum hat sich sein Image so verschlechtert?

Erster westdeutscher Korrespondent in der Sowjetunion: Gerd Ruge.
Erster westdeutscher Korrespondent in der Sowjetunion: Gerd Ruge. (Foto: Foto: WDR/Herby Sachs)

Ruge: Ich glaube, anfangs waren viele überrascht, dass er im Parlament so gut auftritt und auch die ganzen romantischen der bilateralen Beziehungen anspricht ...

sueddeutsche.de: ... am Ende sagte der damalige Präsident: "Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane, zwischen Russland und Deutschland liegt die große Geschichte" ...

Ruge: ... genau. Das hat vielen gefallen. Später hat er sich sehr zu einem Machtpotentaten entwickelt, was sein Bild im Ausland verschlechtert hat. Medwedjew hat sich bisher nicht zum Gesicht des neuen Russlands entwickelt. Putin hat aber jetzt ein Problem, wie mir ein polnischer Kollege neulich sagte: Er hat seinen Bush verloren.

Ich glaube, in Moskau hat man noch nicht realisiert, dass das alte Spiel mit dem neuen US-Präsidenten nicht mehr funktioniert. Stunden nach der Wahl hielt Medwedjew eine Rede zur Lage der Nation und gratulierte Obama gar nicht - sondern drohte an, Raketen in Kaliningrad zu stationieren.

sueddeutsche.de: Davon ist Moskau vergangene Woche abgerückt.

Ruge: Das geschah wohl in der Erwartung, dass man mit Präsident Obama verhandeln kann. Zum Teil wohl auch, weil die militärische Bedrohung durch das Dutzend amerikanischer Abwehrraketen, wie der Chef der russischen Raketentruppen im letzten Herbst darlegte, auf etliche Jahre hinaus weit weniger gefährlich ist als die Politiker in Moskau behaupteten.

sueddeutsche.de: Was ändert sich nun nach dem Ende der Amtszeit von George W. Bush?

Ruge: Der Gegensatz eines schwierigen, aber kontrollierten, deutschfreundlichen Russen namens Putin und eines unkontrollierten, machthungrigen Kriegstreibers namens Bush wirkt nicht mehr. Nun muss sich Putin verändern, aber das wird für ihn schwer werden, weil er dazu neigt, die russischen Machtmöglichkeiten sehr deutlich zu demonstrieren. Das wurde im Georgien-Krieg deutlich, der einen Rückgang der ausländischen Investitionen zur Folge hatte. Da begannen die Probleme für die russische Wirtschaft, die sich nun verschärft haben.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für die herrschenden Eliten in Moskau?

Ruge: Die Situation ist für Putin und seine Anhänger schwierig, weil viele Projekte nicht mehr bezahlt werden können. Es geht um Infrastrukturmaßnahmen, um Sozialausgaben, auch um Investitionen in der Kaukasusregion, damit da die Lage nicht explodiert. Auch die Modernisierung der Armee wird schwerer. Die Inflation steigt und steigt. Putin ist so populär, weil sich in seiner Amtszeit durch den Anstieg der Rohstoffpreise die Einkommen der Bürger sowie die Situation der Unternehmen verbessert haben. Wenn das nun wegbricht, dann bleibt ihm nur der Weg in einen ausgeprägten Polizeistaat, den er aber nicht will, davon bin ich überzeugt.

sueddeutsche.de: Warum?

Ruge: Putin weiß, dass man in der heutigen Zeit mit Internet und Handys keine totale Kontrolle haben kann, das hat er mehrmals gesagt. Aber die Mächtigen werden darauf achten, soziale Unruhen unter Kontrolle zu halten - er hat das 2004 ja schon mal erlebt, als fünf Millionen Russen auf die Straßen gingen.

sueddeutsche.de: Auch jetzt fanden Protest-Demonstrationen statt.

Ruge: Ja. Noch ein Punkt ist wichtig: Im russischen Führungskreis gibt es viele, die sehr reich geworden sind und nun viel verloren haben. Ich meine nicht nur Oligarchen wie Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska, sondern die früheren KGBler und Direktoren der großen, staatlich kontrollierten Industrie. Die werden keinen Putsch riskieren, aber die Stimmung ist angespannt. Hier droht die einzige Gefahr für Putin: Solange es mit diesen Leuten zu keinem großen Konflikt kommt, kann ihm nichts passieren. Die eigentlich politische Opposition, über die mehr im Ausland berichtet wird, hat keine Machtbasis.

sueddeutsche.de: Wird Putin bald als Präsident zurückkommen, wie Analysten spekulieren? Nach der Änderung der Verfassung könnte er zwölf Jahre im Amt bleiben.

Ruge: Das ist heute nicht sein Problem. Er ist zufrieden mit seiner Position, weil er immer noch alles kontrolliert. Ihm scheint es egal zu sein, wer unter ihm Präsident oder Ministerpräsident ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Gerd Ruge über die Männerfreundschaft zwischen Wladimir Putin und Gerhard Schröder denkt und wie er den Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine beurteilt.

sueddeutsche.de: Wird Putins Image durch sein enges Verhältnis zu Gerhard Schröder belastet - jene "außergewöhnliche Männerfreundschaft", von der Sie schreiben? Es hat den Eindruck, der Altkanzler bewirke mit seinem Werben für Russland eher das Gegenteil.

Ruge: Männerfreundschaften sind immer schwer zu erklären, auch jene zwischen Helmut Kohl und Gorbatschow beziehungsweise zwischen Kohl und Jelzin. Sie enden oft ruckartig, wenn einer sein Amt verliert. Bei Putin und Schröder ist es womöglich anders. Die Einschätzung, dass Schröder sich selbst und der russischen Sache eher schadet, ist vielleicht richtig, aber das wird Putin nicht so empfinden. Für ihn ist es wichtig, dass er einen Kameraden hat, der zu ihm hält. Putin hat wenig Erfahrung mit Freundschaften oder auch nur Gesprächsbeziehungen zu Ausländern, um herauszufinden, wie diese ticken.

sueddeutsche.de: Hat es Sie überrascht, dass Schröder so schnell nach seinem Rückzug aus der Politik den Vorsitz beim Northstream-Konsortium übernommen hat?

Ruge: Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell einen solchen Posten übernimmt und es hat mir auch nicht gefallen. Aber ich halte es nicht für ein weltgeschichtliches Ereignis.

sueddeutsche.de: Die jüngsten Ereignisse - vor allem den Gas-Streit mit der Ukraine - deuten einige als Bestreben von Putin, die Einflusssphären der Sowjetunion aufrechtzuerhalten.

Ruge: Das spielt eine Rolle, auch wenn es nicht zuletzt um Geld ging. In Zeiten sinkender Preise hat in Russland niemand Verständnis, wenn die Ukraine einen Freundschaftstarif bekommt. Man lag nicht weit auseinander und dann forderte Moskau plötzlich mit 450 Dollar fast das Doppelte. So wurde die Krise politisch, zumal das Verhältnis zur Ukraine schwierig ist: In Kiew entstand aus russischer Sicht der erste slawische Staat, auf der Krim ist die ruhmreiche Schwarzmeerflotte beheimatet.

Ähnliches gilt auch für das Baltikum: Da besteht immer noch die Gefahr, dass in Russland der Wunsch entsteht, das zurückzuholen, was Jahrhunderte zu ihm gehörte. Putin nutzt diese Stimmungen. Im Gas-Streit war die russische Position eigentlich wirtschaftlich gut nachvollziehbar, doch sie wurde politisch schlecht vertreten.

sueddeutsche.de: Wie beurteilen Sie den Georgien-Krieg im August?

Ruge: Sicherlich hatte die Elite um Putin Sorge, dass sich Georgien zu eng an den Westen bindet. Die Konflikte in der Region reichen Jahrhunderte zurück. Die Kaukasusvölker haben sich lange untereinander bekämpft oder standen nur zusammen, wenn es gegen Russland ging. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat sicherlich seine Karten überreizt, als er Südossetien angegriffen hat und darauf hat Moskau überreagiert. Die Begründung war kaum überzeugend ...

sueddeutsche.de: ... es sollten russische Staatsbürger gerettet werden...

Ruge: ... dabei waren erst in den Jahren zuvor Zehntausende russische Pässe an Osseten verteilt worden. Das waren alles vorgeschobene Dinge und Beleg für eine Politik, die nicht weiß, was sie will. Wenn man bedenkt, wie lange Franzosen und Engländer gebraucht haben, um den Verlust ihrer Kolonien zu verarbeiten und eine vernünftige Politik zu machen, dann weiß man, wie schmerzhaft und schwer heilbar der Verlust des Imperiums ist. Das gilt für die Russen auch.

sueddeutsche.de: Sie schreiben, weder in Berlin noch in anderen EU-Hauptstädten existiere eine eindeutig formulierte Russlandpolitik. Was fehlt?

Ruge: Phantasie und der Wille, in neuen Kategorien zu denken. Ich halte etwa die Position der baltischen Staaten für gefährlich und oft für überzogen. Man kann die Russlandpolitik der EU nicht nach dem Misstrauen früherer Sowjetrepubliken ausrichten, das ist nicht rational. Wichtiger wäre es, dass Europa in einen ständigen Dialog auf allen Ebenen mit Moskau tritt und klarmacht, dass man komplexe Probleme nicht löst, indem man mit der Faust auf den Tisch haut. Wir müssen auch deutlich machen, dass es Dinge gibt, die wir nicht akzeptieren.

sueddeutsche.de: Aber ist Moskau überhaupt an einem Dialog interessiert?

Ruge: Russland braucht die Kooperation. Es hat keine strategischen Partner, es gibt nur kurzfristige Abmachungen mit den Amerikanern, China und mit Europa. Peking hat zum Beispiel Moskaus Politik im Georgien-Konflikt nicht unterstützt und versucht ebenfalls, seinen Energiebedarf in Zentralasien zu decken.

sueddeutsche.de: Ähnliches hat auch die Europäische Union vor.

Ruge: Ja, nur ist hier wenig über eine gemeinsame Russlandpolitik nachgedacht worden. Man kann überlegen, ob man die Nabucco-Pipeline an Russland vorbei führen kann. Wenn man das möchte, dann muss man viel Geld investieren, um mit den zentralasiatischen Staaten ins Geschäft zu kommen und ihnen zeigen, dass man sie unterstützt. Moskau versucht dort, seinen Einfluss zu festigen. Zwar reicht Nabucco nicht aus, um sich unabhängig vom russischen Gas zu machen. Aber es wäre wichtig, die Abhängigkeit zu verringern.

sueddeutsche.de: Bleibt die Frage, woher das Gas für Nabucco kommen soll - die Regime in Usbekistan, Turkmenistan oder Iran sind undemokratischer und unzuverlässiger als Russland.

Ruge: Natürlich können wir Usbekistan nicht zu einer Demokratie machen, bevor wir mit ihnen Geschäfte machen. Russland ist auch keine Demokratie, aber man kann sich einigen. Aber die Vorstellung, Russland zu isolieren und auf seinem eigenen Gas hocken zu lassen, ist doch absurd. Es ist wichtig, Gesprächsstränge zu etablieren und nicht abreißen zu lassen. Man muss versuchen, Vertrauen zwischen Russland und dem Westen aufzubauen, sogar langfristig neue Formen der Zusammenarbeit in Europa aufzubauen, die den veränderten Verhältnissen entsprechen.

Lesen Sie auf der letzten Seite, was Gerd Ruge über Barack Obama denkt und was die Russen im 21. Jahrhundert über Deutschland denken.

sueddeutsche.de: Kann Obama für Entspannung zwischen Russland und Amerika sorgen?

Ruge: Das muss man abwarten. Bisher hat der neue US-Präsident zum Beispiel in Bezug auf das Raketenabwehrschild erklärt, erst mal prüfen zu wollen, ob es überhaupt funktioniert. Er ist auf alle Fälle moderater als John McCain. Aber momentan kann man nur spekulieren, wie die amerikanische Russlandpolitik aussehen wird, wenn sie überhaupt schon formuliert wurde.

sueddeutsche.de: In vielen Bereichen wie Afghanistan oder dem iranischen Atomprogramm könnte Amerika russische Unterstützung brauchen.

Ruge: Absolut. Putin hat nach den Anschlägen vom 11. September die Bush-Regierung sehr unterstützt und den USA erlaubt, Stützpunkte in Zentralasien zu errichten. Später fühlte er sich ausgenutzt und sah diesen Schritt nicht ausreichend gewürdigt. Das ist sicher nicht Obamas Ziel. Aber seine Experten, allen voran Außenministerin Hillary Clinton, stehen eher für einen konfrontativen Kurs gegenüber Russland. Man wird sehen, was da kommt.

sueddeutsche.de: Sie haben 1961 die deutsche Sektion von Amnesty International mit gegründet. Der Doppelmord an dem Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und seiner Begleiterin, der Journalistin Anastasija Baburowa muss Sie besonders schockieren.

Ruge: Natürlich. Aber das Seltsame an dem Fall ist, dass es niemand gewesen sein will. Ich glaube nicht, dass es Befehle von Putin gab, Markelow oder Politkowskaja umzubringen. Aber es herrscht eine Stimmung, die dazu beiträgt, dass so etwas geschehen kann. In der Armee waren viele verbittert über den Anwalt, der angeblich das Ansehen der Soldaten beschmutzt.

Es ist bemerkenswert, dass die Justiz in diesen Fällen ein so schlechtes Bild abgibt - genau so war es beim Prozess gegen Yukos-Gründer Michail Chodorkowskij. Es zeigt, wie unorganisiert es in Russland zugeht. Wir denken hier, dort sei alles unter Kontrolle, doch es gibt mehr Unsicherheit und Unklarheit, als wir denken.

sueddeutsche.de: Sie zeigen in Ihrem Buch, dass die Schwäche des russischen Rechtsstaats ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit hat.

Ruge: Gewisse Strukturen gehen noch auf die Herrschaft von Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert zurück. Etwa die Art, wie der Staat Gerichte behandelt, sich in Prozesse einmischt oder der Einfluss des Geheimdiensts. Daher rührt auch die Bedeutung der Führungsfigur, sei es nun der Zar, Stalin oder vielleicht auch Putin heute.

Auch der Zentralismus und die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im westlichen Sinne taucht immer wieder auf. Und die Ängste der Russen, dass die westlichen Mächte sie klein halten wollten, gibt es seit Jahrhunderten.

sueddeutsche.de: Man muss also die Geschichte kennen, um das heutige Russland zu verstehen.

Ruge: Es hilft sicherlich. Mir ging es auch darum, einige alte Vorstellungen zu korrigieren. Viele denken, die Russen seien Hinterwäldler gewesen, die irgendwo in der Steppe lebten und vor sich hin vegetierten, wenn sie sich nicht gerade umbrachten. Dabei war das erste russische Reich, die Kiewer Rus, im 10. und 11. Jahrhundert sehr viel reicher und besser organisiert als das deutsche Kaiserreich mit seinen kleinen Staaten. In Deutschland glaubten nicht nur die Nazis, die Wikinger hätten dieses russische Reich geschaffen.

sueddeutsche.de: Reich waren die Herrscher aus Kiew auch.

Ruge: Als einmal Staatsbesuch aus Kiew kam, brachten die Gesandten so wertvolle Geschenke mit, dass der Kaiser damit drei Jahre lang Krieg führen konnte. Eine hochgebildete und elegante Prinzessin aus Kiew wurde damals mit dem Grafen aus Stade und nach dessen Tod mit Kaiser Heinrich IV. verheiratet.

sueddeutsche.de: Wann waren Sie zuletzt in Russland?

Ruge: Im November und ich fahre nun wieder hin, um einen Film zu drehen. Im Umkreis von 100 Kilometern rund um Moskau gibt es eine ungeheure Vielfalt: Sie finden Wölfe und Bären, es gibt Hochschulen und Militärakademien, Fabriken aller Art und daneben Dörfer ohne Strom und Gas, aber auch Luxusvillen. Auf diesem kleinem Gebiet gibt es alles, was es im Riesenreich gibt und so lässt sich vielleicht die russische Befindlichkeit von Heute zeigen.

sueddeutsche.de: Sie kamen als erster deutscher Korrespondent nach Moskau und haben 15 Jahre dort gelebt. Was denken die Russen über Deutsche und Deutschland?

Ruge: Ich habe nie, auch damals 1956, eine Art Deutschenhass gespürt, trotz des Krieges. Damals war es für uns in Holland oder England schwieriger. Die bilateralen Beziehungen waren mit Moskau ja selten ganz schlecht, Deutschland galt als potenzieller Partner. Als das Erdgas-Röhren-Geschäft in den siebziger Jahren anfing, kamen große Bedenken nicht nur aus den USA sondern es gab sie auch in Moskau: die UdSSR könnte zu abhängig werden von deutschen Unternehmen. Aber es kam manchmal zu skurrilen Erlebnissen: Ich habe einmal in Weißrussland auf einem Marktplatz gedreht. Hinter mir unterhielten sich zwei alte Männer. Der eine wollte wissen, was los sei und der andere antwortete: "Nichts besonderes, die Faschisten drehen einen Film." Aber das klang eher freundlich oder neutral.

sueddeutsche.de: Und heute?

Ruge: Wir Deutschen sind uninteressanter geworden, vor allem für die Jüngeren. In den siebziger und achtziger Jahren war Deutschland für die Intellektuellen ein Fenster nach Europa, doch das hat seit 1990 nachgelassen. Deutschland ist noch wichtig, aber ein Land unter vielen möglichen Partnern. Aber das hat ja vielleicht sein Gutes.

Das aktuelle Buch "Russland" von Gerd Ruge kostet 18 Euro. Es ist in der Reihe "Die Deutschen und ihre Nachbarn", die von Altkanzler Helmut Schmidt und Altbundespräsident Richard von Weizsäcker herausgegeben wird, im C.H. Beck Verlag erschienen.

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