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Geplünderte Waffenlager in Libyen:Pulverfass Libyen - Gaddafis explosives Erbe

Sprengstoff, Senfgas und Raketen: Ein riesiges Waffenarsenal hat Gaddafi jahrzehntelang die Macht gesichert, jetzt werden diese Lager geplündert, besonders begehrt sind Luftabwehrwaffen. Während sich Gaddafi in einer Audio-Botschaft kämpferisch gibt, wird bekannt, dass der Despot kurz vor seinem Sturz eine große Menge der libyschen Goldreserven verkauft haben soll.

Kathrin Haimerl

Das Schild an der Tür liest sich vergleichsweise harmlos: "Schulbuch Druck und Lagerhalle", steht darauf. Doch im Inneren des Gebäudes in Tripolis befindet sich sehr viel heißere Ware. Anstelle von Büchern hat das Regime von Muammar al-Gaddafi hier offenbar Munition, Waffen und Raketen aufbewahrt. Einige Kisten sind leer, darunter auch solche, die genau jene Waffen enthielten, die den USA schon länger Sorgen bereiteten: Luftabwehrraketen.

Die Schilderungen in einem Bericht der New York Times finden sich so ähnlich auch bei Reportern von CNN, die zusammen mit Vertretern von Human Rights Watch eine Kiste gefunden haben, in der eine Igla-S-Kurzstrecken-Boden-Luft-Rakete (Nato-Codename: SA-24 Grinch) gelagert wurde. Die Washington Post berichtet davon, dass elf Tonnen Senfgas derzeit ungesichert in libyschen Depots lagern.

Macht Gaddafis immenses Waffenarsenal den instabilen Staat ohne funktionierende Sicherheitsstrukturen zu einem Pulverfass? Insbesondere die USA hatten diese Befürchtung bereits während des Nato-Einsatzes immer wieder geäußert. Der US-Geheimdienst hatte davor gewarnt, die Waffen könnten in die Hände von regimetreuen Kämpfern oder des Terrornetzwerks al-Qaida fallen.

Gaddafi hatte sich in den vier Jahrzehnten seiner Herrschaft eine Streitmacht aufgebaut, die mehr als 100.000 Mann umfasste. Seine Armee rüstete der Despot mit Hilfe seiner Petro-Milliarden auf, zunächst vornehmlich mit Produkten aus dem Ostblock. Von 1992 bis 2003 verhängten die Vereinten Nationen ein Waffenembargo gegen Libyen, doch nachdem Gaddafi dem Terrorismus abschwor, konnte er auch Deals mit europäischen Waffenherstellern schließen. Frankreich etwa belieferte den Despoten mit Milan-Raketen.

Bei der Erstürmung von Gaddafis Residenz in Tripolis fielen den Rebellen außerdem zahlreiche G36-Gewehre in die Hand, produziert von der deutschen Firma Heckler & Koch. Auch Deutschland gehörte zu den Waffenlieferanten: Zwischen 2005 und 2009 sollen Rüstungsgüter im Wert von 83,5 Millionen Euro exportiert worden sein, bestätigt die Bundesregierung eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.

Gefahr von Flugabwehrwaffen

Neben chemischen Waffen bereiten den Experten besonders die Boden-Luft-Raketen vom Typ Strela-2 (Nato-Codename: SA-7 Grail) Sorgen. Diese Waffen hatte Gaddafi in den ehemaligen Ostblockstaaten erworben, die SA-7-Raketen wurden noch zu Zeiten der Sowjetunion entwickelt.

Die infrarotgelenkten Luftabwehrraketen können von der Schulter aus abgefeuert werden. Auf Bildern sind die libyschen Rebellen immer wieder mit solchen Waffen zu sehen. Erst im Juli hatte die New York Times berichtet, dass möglicherweise bis zu 20.000 solcher Raketen in Libyen sein könnten.

Noch gefährlicher ist die weiterentwickelte Igla-S, die neueste Variante der russischen Boden-Luft-Rakete. Mit Hilfe der infrarotgesteuerten Waffe können Kampflugzeuge, Helikopter, Marschflugkörper und Drohnen in einer Höhe von bis zu 3500 Metern abgeschossen werden. Ende März bestätigte der russische Hersteller die Lieferung nach Libyen, allerdings könnten die Raketen lediglich auf Laster montiert werden. Den Auslösemechanismus, um die Igla-S von der Schulter abzufeuern, habe man nicht nach Libyen geliefert.

Bei Waffenschmugglern sind die Boden-Luft-Raketen nach Angaben von Matthew Schroeder, dem Direktor des Washingtoner Arms Sales Monitoring Project der Federation of American Scientists, besonders beliebt.

Dies bestätigt Peter Bouckaert von Human Rights Watch. Die geplünderten Lager in Tripolis seien kein Einzelfall. "In jeder Stadt, in der wir ankommen, scheinen als Erstes die Boden-Luft-Raketen zu verschwinden", zitiert ihn CNN. Auf dem Schwarzmarkt erzielten sie Werte von mehreren tausend Dollar. "Wir sprechen von etwa 20.000 solcher Raketen in ganz Libyen und ich habe Fahrzeuge gesehen, die mit ihnen vollgepackt waren", so Bouckaert. "Sie könnten ganz Nordafrika in eine Flugverbotszone verwandeln."

Die US-Regierung habe die neue libysche Führung aufgefordert, Waffenlager besser zu schützen, sagte John Brennan, Antiterror-Berater im Weißen Haus. Der Washingtoner Waffenexperte Schroeder hatte bereits vor mehreren Monaten angemahnt, dass es oberste Priorität des US-Geheimdiensts und seiner Mitstreiter sein müsse, diese Waffen sicherzustellen.

Gefahr auch für die Nachbarländer

Die Berichte von geplünderten Waffenlagern in Libyen mehren auch die Sorgen um eine Destabilisierung der gesamten Region. Der gabunische Kommissionspräsident der Afrikanischen Union (AU), Jean Ping, warnte nun ausdrücklich vor den Gefahren libyscher Waffen für die Nachbarländer. Der Präsident des Tschad erklärte, unter den Funden in seinem Land seien auch SA-7-Raketen.

Der nigrische Außenminister Mohamed Bazoum fürchtet, dass sich der libysche Konflikt zu einer großen Bedrohung für die gesamte Sahelzone entwickeln könnte. Die Region sei zu einem "Pulverfass" geworden. Die Menge an Waffen in der ohnehin instabilen Region, die mit Drogenschmuggel und Terrorismus zu kämpfen hat, habe weiter zugenommen. Neben zahlreichen Handfeuerwaffen seien im Juni auch 500 Kilogramm des Sprengstoffs Semtex sichergestellt worden, so der nigrische Chefdiplomat.

Bereits im April hatte der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhlau, vor einer Stärkung des Al-Qaida-Ablegers im Maghreb (AQIM, al-Qaida im Maghreb) durch die Umbrüche in Nordafrika gewarnt. Die Organisation könnte von der instabilen Sicherheitslage in Libyen profitieren.

Der frühere libysche Dschihadist Noman Benotman, der inzwischen als Analyst für die Londoner Qilliam Foundation forscht, schätzt, dass unter den Kämpfern der Rebellen bis zu 1000 Dschihadisten sind, die dem nordafrikanischen Al-Qaida-Ableger angehören.

30.000 Tote bei Kämpfen in Libyen

Derweil hat die neue libysche Führung Opferzahlen zum sechsmonatigen Bürgerkrieg veröffentlicht: Nach Angaben des Gesundheitsministers der neuen Führung hat dieser mindestens 30.000 Menschen das Leben gekostet. 50.000 seien bei den Kämpfen verletzt worden, sagte Nadschi Barakat. Im Gegensatz zu bisherigen groben Schätzungen basierten diese Zahlen zum Teil auf Berichten von Krankenhäusern, Beamten vor Ort und ehemaligen Kommandeuren der Rebellentruppen.

Der libysche Machthaber selbst ist seit seinem Sturz untergetaucht, meldet sich aber immer wieder über seinen Sprecher oder Audiobotschaften zu Wort, zuletzt an diesem Donnerstag. Berichte, wonach Gaddafi in einem Militärkonvoi ins Nachbarland Niger geflohen sein könnte, weist er als Lügen zurück. Seinen Gegnern bleibe "nichts mehr als psychologischer Krieg und Lügen", sagte er in einer vom syrischen Fernsehsender Arrai übertragenen Audiobotschaft.

Als relativ sicher gilt allerdings inzwischen, dass der ehemalige libysche Diktator vor seinem Sturz große Mengen Goldes verkauft hat. Gaddafi habe kurz vor der Einnahme seiner Residenz 29 Tonnen aus den libyschen Goldbeständen zu Geld gemacht, sagte Zentralbank-Gouverneur Kassem Assos in Tripolis. Dies seien mehr als 20 Prozent der Goldreserven des Landes gewesen. Der Wert des verkauften Anteils belaufe sich auf mehr als eine Milliarde Dollar (mehr als 711 Millionen Euro).

Nach dem monatelangen Krieg habe Gaddafi damit in der Endphase seiner Herrschaft Gehälter bezahlen wollen, sagte Assos. Ein Zentralbankvertreter vermutete, dass das Gold wahrscheinlich über Tunesien außer Landes geschafft wurde. Die Guthaben der libyschen Zentralbank bezifferte Assos auf 115 Milliarden US-Dollar, von denen sich 90 Milliarden im Ausland befänden.

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