Süddeutsche Zeitung

Georgien:Ein Trio aus drei Dirigenten

Vor allem die Wut über den Wahlbetrug und die herrschende Korruption haben den Machtwechsel herbeigeführt - doch wer hat jetzt das Sagen?

Von Tomas Avenarius

(SZ vom 25.11.2003) — Der Morgen nach der Revolution war von geradezu revolutionärer Normalität. 15 Grad und Sonnenschein. Die wenigen, die Arbeit hatten, gingen zur Arbeit. Die anderen beließen es beim Einkaufen oder dem Nichtstun.

Bis auf die landesüblichen gelangweilten Verkehrspolizisten ließen sich auf dem Rustaveli-Prospekt auch keine Uniformierten sehen. Geschweige denn schwer bewaffnetes Militär. Und die Hauptdarsteller des georgischen Revolutionstheaters hatten den ersten Vormittag der neuen Epoche offenbar ohnehin verschlafen: Während die siegreichen Führer der georgischen Opposition sich nicht blicken ließen im Parlament oder zumindest auf den Fernsehschirmen des Landes, standen nur noch einige Anhänger auf der Straße herum.

Sie hatten alle gerötete und müde Augen, rochen nach Tabak und Alkohol nach den langen Nächten des Protests und der großen Siegesfeier im Zentrum von Tiflis. "Wir waren hier hergekommen, um gegen die Diktatur und für die Demokratie zu kämpfen. Das Wichtigste war, dass Schewardnadse geht. Er ist jetzt weg. Wir haben gesiegt."

Vor einem der alterschwachen Busse, mit denen die Oppositionsparteien ihre Anhänger aus allen Landesteilen in die Hauptstadt gebracht hatte, muss Erdaja dann wohl auch der Versuchung nachgeben, die Wirklichkeit noch ein bisschen zu schönen. "30.000 waren wir alleine aus unserer Region", sagt er und nickt dabei, als ob er sich selbst überzeugen müsse.

Dass er bei den Zahlen der Demonstranten schamlos übertreibt, nimmt dem Sieg nichts von seiner historischen Größe: Nach 21 Tagen ununterbrochener und meist friedlicher Proteste, an denen in der Hauptstadt am Schluss mindestens 10000 Menschen teilnahmen, ist der Mann zurückgetreten, der dem Land fast 30 Jahre lang seinen Stempel aufgedrückt hatte: Eduard Schewardnadse, georgischer KP-Chef, Sowjet-Außenminister, schließlich Georgiens gewählter Präsident.

Fahl und blass

Friedlicher Machtwechsel mit ungewöhnlichen Mitteln also in Georgien. Von der "Samt-Revolution" ist in den Zeitungen die Rede, Erinnerungen an die friedlichen Machtwechsel in Warschau, Prag oder Ostberlin werden bemüht. Und das, obwohl viele Anzeichen auf einen blutigen Konflikt hin gedeutet hatten in Tiflis in den letzten Tagen.

Seit der skandalös gefälschten Parlamentswahl vom 2. November hatten die Demonstranten in Tiflis auf den Straßen gestanden, hatten den Rücktritt ihres Präsidenten gefordert. Sie waren nicht bereit, den angeblichen Sieg der Parteien Schewardnadses und eines seiner Bundesgenossen zu akzeptieren. Der Präsident warnte vor "Blutvergießen und Bürgerkrieg", redete vom Putsch der Straße und dem nötigen Einsatz von Gewalt "zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung".

Doch die um ihren Sieg betrogene Opposition gab nicht nach, blieb auf der Straße. Dafür gab der frühere sowjetische Außenminister Schewardnadse auf. Er sagte nur noch müde: "Ich fahre jetzt nach Hause." Schewardnadses spärliches Silberhaar stand dabei ein wenig in die Luft, das aufgequollene Gesicht war fahl und blass. Nach seiner am Samstag von den Demonstranten erzwungenen Flucht aus dem Parlament, nach den tagelangen Verhandlungen mit den Führern der Opposition und dem flankierenden Druck aus Moskau und Washington, zu allerletzt allein gelassen von seinen Soldaten und Polizisten, war der 76-jährige Politiker am Sonntagabend zu der Einsicht gekommen, diesen einen Satz zu sagen: "Ich trete zurück, um Blutvergießen zu vermeiden."

Auf die Frage, wie es nun weitergehe im Lande, kam die resignierte Antwort: "Das ist nicht mehr mein Problem." Das ist jetzt aber das Problem derer, die den Rücktritt Schewardnadses erzwungen hatten: Michail Saakaschwili, Nino Burdschanadse und Surab Schwania, das Triumvirat der georgischen Samt-Revolution. Mit dem Sturz des letzten politisch aktiven Mitglieds des Sowjet-Politbüros könnten sie eine neue, eine bessere Zeit für Georgien einläuten.

Könnten - wenn die drei wichtigsten demokratischen Oppositionsführer wirklich in der Lage wären, das zerrissene Land gemeinsam aus der Krise zu führen. Erst einmal müssen Präsident und Parlament innerhalb von 45 Tagen neu gewählt werden. Noch in den ganz frühen Morgenstunden des Montags, wenige Stunden nach dem Rücktritt Schewardnadses, hatten Parlamentssprecherin Burdschanadse die alte Regierung mit selbstbewusster Geste angewiesen, Ruhe und Ordnung im Land aufrechtzuerhalten.

Burdschanadse: Die offiziell starke Figur

Frau Burdschanadse ist offiziell die starke Figur: Kraft der Verfassung ist die Sprecherin des alten Parlamentes nun Übergangspräsidentin. Mit ernsten Augen hinter randlosen Brillengläsern hatte die dunkelhaarige Juristin am Pult des Parlaments gestanden und versucht, den Menschen im Land den Eindruck zu vermitteln, dass die Lage trotz aller Umwälzungen unter Kontrolle sei.

Zuvor hatte sie sich mit den Ministern des gestürzten Staatschefs zusammengesetzt. Sie hatte wichtige Fragen geklärt, einen Zettel mit Stichpunkten vor sich, den sie konzentriert abarbeitete. Schewardnadses Minister senkten den Blick dabei verschämt auf die Tischplatte. Frau Burdschanadse mag laut Verfassung die starke Figur sein. Der Titelheld der georgischen Revolution aber saß bei diesem Treffen zwischen den Vertretern der alten und der neuen Macht am anderen Ende des Tischs.

Ganz so, als sei er nicht erschöpft von den drei Wochen ununterbrochener Anspannung, drückte Michail Saakaschwili an den Knöpfen seines Mobiltelefons herum. Der 35-jährige Jurist, elegant wie immer, strahlte die Gelassenheit des Spielers aus, der weiß, dass er sein Blatt nicht nur gut, sondern perfekt gespielt hat. Als er nach dem Rücktritt des Präsidenten auf den Stufen des Parlaments vor den Massen stand, da trat er auf wie ein Dirigent vor seinem Orchester.

Der Populist Saakaschwili wusste, welches Thema er in diesem Moment des Siegs und Triumphs intonieren musste: "Das habt ihr geschafft", rief er den Demonstranten mit erhobenen Armen zu.

Doch auch der Titelheld alleine erklärt nicht den Sieg der Opposition. Der Kopf, so sagen Beobachter, sei der eher unscheinbare Surat Schwania. Der habe den Aufstand der Massen organisiert, habe dafür generalstabsmäßig Sorge getragen, dass die Menschen auf die Straße gingen.

Eines aber haben alle drei Mitglieder dieses ungleichen Triumvirats gemeinsam: Sie alle sind groß geworden unter Schewardnadse, sie alle sind seine politischen Ziehkinder. Doch irgendwann trennten sich die Wege, und es ist schwer zu sagen, ob es wirklich nur die Wut war über die das ganze Land erfassende Korruption, für die der Name Schewardnadse steht, oder ob schon der eigene politische Ehrgeiz den Weg jedes einzelnen der drei vorzeichnete. Saakaschwili zum Beispiel war früher Schewardnadses Justizminister, bis er in einer Kabinettssitzung vor laufenden Kameras Photos der marmorüberladenen Luxusvillen wichtiger Politiker und Freunde Schewardnadses hochhielt. Der Rücktritt folgte auf dem Fuß.

Das war der Beginn der "Gebt-Schewardnadse-Contra"-Kampagne Saakaschwilis. Sie scheute am Schluss auch nicht zurück vor ebenso griffigen wie gefährlich zugespitzten Formulierungen: "Erst Ceausescu, dann Milosevic, jetzt Schewardnadse." Am Montagnachmittag ließ Saakaschwili durchblicken, dass er nun die ganze Macht will: Er kündigte seine eigene Kandidatur um die Präsidentschaft an. Was einen Vorgeschmack auf den Bestand des Triumvirats gibt.

Kämpfer Saakaschwili

Kämpfen jedenfalls kann Saakaschwili. Vier Tage hatte er überhaupt nicht mehr geschlafen, war im Auto quer durch das Land gereist, hatte das Volk mobilisiert und am Samstag schließlich den Sturm auf das Parlament angeführt. Der in den USA ausgebildete Jurist musste jederzeit damit rechnen, verhaftet zu werden, und gleichzeitig den Druck auf Schewardnadse weiter steigern.

Saakaschwili und seine Bundesgenossen wussten, dass ein entschlossener Stoß reichen würde, den sich an die Macht klammernden Präsidenten zu stürzen. Die Besetzung des Parlaments in dem Moment, in dem sich die durch gefälschte Wahlen zustande gekommene Volksvertretung konstituieren sollte - das war ein genialer Schachzug. Die vom Fernsehen weltweit übertragene Flucht des Präsidenten und Wahlfälschers aus dem Sitzungssaal dürfte der entscheidende Moment gewesen sein.

Von da an konnte Schewardnadse sich nicht mehr halten, von da an war er nicht mehr zu halten. Das wusste man auch in Moskau und Washington, wo man vor allem daran interessiert war, Stabilität zu wahren. Nicht umsonst, so sagte Saakaschwili, habe er die ganze Zeit in Kontakt gestanden mit den Regierungen in Washington und Moskau.

Und nicht umsonst war es wohl Moskaus Außenminister Igor Iwanow, der Schewardnadse am Ende persönlich überredete, seinen Rücktritt zu unterzeichnen.

Von den Jubelfeiern, die sich nach dem Rücktritt im Zentrum vor dem Parlament abspielten, wird Schewardnadse allenfalls durch das Fernsehen etwas mitbekommen haben. Vielleicht hat er aber auch das Feuerwerk gehört, hat er die rot-goldenen Feuerbälle am Himmel über Tiflis gesehen: Der Moment, in dem die Oppositionellen direkt vor dem Parlament ihre Raketen und Böller in die Luft schossen, dürfte so ziemlich genau der Moment gewesen sein, in dem die Tinte trocken war unter dem Rücktrittsschreiben.

Von all dem Jubel und dem Getanze, von all den Umarmungen und Küssen, von dem Autokorso mit den Flaggen und Plakaten - von all dem, was auf die Bekanntgabe des Rücktritts folgte, wird der alte Mann wenig wissen wollen. Wer sieht schon gerne, dass er verhasst ist beim eigenen Volk? "Dem teuren Präsidenten vom dankbaren Volk", hatte auf dem schwarzen Grabstein aus Pappe gestanden, den Studenten wenige Stunden vor dem Rücktritt am Sonntagabend durch die Menge der Zehntausenden getragen hatten.

Auf der Rückseite stand die Botschaft an Schewardnadse: "Gehen Sie endlich!". Und die Studentin Nino Salukadse, die seit Tagen ihre zweijährige Tochter auf den Schultern zu den Demonstrationen getragen hatte, fügte hinzu, was so ziemlich jeder vor dem Parlament sagte oder dachte: "Der Mann muss weg. Er hat uns betrogen. Er hat uns zwölf Jahre unseres Lebens gestohlen."

Ende einer Epoche

Ob das nun eine friedliche Revolution war oder ein von dem oppositionellen Triumvirat geschickt eingefädelter Staatsstreich mit halbdemokratischen Mitteln oder einfach eine Abstimmung der Hungrigen mit ihren Füßen: Mit Schewardnadses Rücktritt endet eine Epoche in Georgien. 1992 war der frühere Sowjet- Außenminister an die Macht gekommen, das Land versank gerade im Bürgerkrieg. Schewardnadse war weltberühmt.

Er war der Mann an der Seite des Sowjetreformers Michail Gorbatschow gewesen. Er und Gorbatschow hatten den Ländern des Warschauer Pakts ihre Freiheit zurückgegeben, hatten die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht. Aber in seiner Heimat ging dem von westlichen Staatsmännern hochverehrten Sowjet-Diplomaten nicht viel von der Hand. Zwar war konnte Schewardnadse den Bürgerkrieg beenden. Befrieden aber konnte er seine Heimat nicht.

Kriege gegen Separatisten in Ossetien und Abchasien, angeheizt vom mächtigen Nachbarn in Moskau, rissen Georgien in Stücke. Schewardnadse herrschte von Anfang an nur über einen Rumpfstaat, und auch den bekam er nicht in den Griff: Strom und Heizung arbeiten nur sporadisch, die Fabriken des Landes stehen still, die Menschen haben keine Arbeit, dafür haben die Kriminellen Hochkonjunktur.

Nicht Politik fürs Volk, sondern alles umfassende Korruption war das Markenzeichen der Herrschaft Schewardnadses. "Ich kriege nur 14 Lari Rente", sagte eine alte Frau, die zwischen den Zehntausenden Demonstranten am Straßenrand hockend Sonnenblumenkerne und Nüsse verkauft. "Das reicht selbst in Georgien weder zum Leben noch zum Sterben." Und eine andere fügte hinzu: "Am besten, Schewardnadse verbringt seinen Lebensabend in Baden-Baden, in irgendeinem Sanatorium. Nehmt ihn mit nach Deutschland, wir schenken ihn Euch."

Ob Schewardnadse selbst wirklich Lust auf Baden-Baden hat, war am Montag noch unklar. Er hatte sich am Sonntagabend ins Haus seiner Tochter am Stadtrand zurückgezogen. Am Montag wusste keiner, ob er noch dort oder aber doch schon in Deutschland war. Über seine eigenen Zukunftspläne hatte Georgiens erster frei gewählter Präsident nur soviel gesagt: "Ich habe noch viel zu tun. Ich werde meine Memoiren schreiben."

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