Süddeutsche Zeitung

Australien:Eingeholt von der Vergangenheit

  • Die Verurteilung des Kurienkardinals und Papstvertrauten George Pell erschüttert den Vatikan.
  • Pell ist von einem Geschworenengericht in Australien für schuldig befunden wurden, sich 1996 an zwei Chorknaben, damals 12 und 13 Jahre alt, sexuell vergangen zu haben.
  • Er ist der bisher hochrangigste und prominenteste katholische Kirchenmann, der des Missbrauchs überführt wurde.

Von Oliver Meiler, Rom

Selten zuvor hat ein Schuldspruch aus dem fernen Australien auf dieser Seite des Planeten einen so lauten Widerhall erzeugt. Die Verurteilung des Kurienkardinals und Papstvertrauten George Pell erschüttert den Vatikan mit aller Wucht und stürzt ihn nur zwei Tage nach dem Ende des internationalen Missbrauchsgipfels in ein großes Dilemma. Pell ist von einem Geschworenengericht in der Heimat für schuldig befunden worden, sich 1996 an zwei damals 13 Jahre alten Chorknaben sexuell vergangen zu haben. In der Sakristei der Kathedrale von Melbourne, nach dem Gottesdienst.

Er ist der bisher höchstrangige und prominenteste katholische Kirchenmann, der des Missbrauchs überführt wurde. Unter Benedikt XVI. galt Pell als "Ratzingerianer", unter Franziskus als "Bergoglianer". Zum Kardinal ernannte ihn aber noch deren Vorgänger, Johannes Paul II. Es gab Zeiten, da galt der Australier als "papabile", als möglicher Papst also, obschon es schon lange düstere Gerüchte und Klagen über ihn gegeben hatte.

Die australische Justiz hatte ein vorläufiges Berichtsverbot verhängt

Das Urteil fiel schon im Dezember, einstimmig. Doch da damals noch offen war, ob die Staatsanwaltschaft Pell in weiteren Fällen den Prozess machen würde, verhängte die australische Justiz ein vorläufiges Berichtsverbot. Das ist so üblich, damit die Geschworenen im neuen Prozess sich nicht vom Urteil in einem anderen Verfahren beeinflussen lassen. Das Embargo wurde bald gebrochen. Und so gab der Vatikan schon am 12. Dezember bekannt, dass Pell nicht mehr dem Kardinalsrat angehöre, dem K9, wie Papst Franziskus sein Reformgremium nannte. "Aus Altersgründen", hieß es im offiziellen Bulletin des Heiligen Stuhls, seien drei Mitglieder ausgeschieden. Das Alter war ein Vorwand, nicht nur im Fall des Australiers. Pell ist 77.

Beurlaubt hat ihn der Papst schon im Juni 2017, als er angeklagt wurde. Pell sagte damals, er wolle seinen "Namen reinwaschen", verzichtete auf seine diplomatische Immunität und stellte sich einem weltlichen Gericht, was vor ihm noch nicht viele Prälaten getan hatten. Im Jahr davor, als die Royal Commission, die sich der Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle angenommen hatte, Pell verhören wollte, weigerte er sich noch, nach Australien zu fahren. Er führte hohen Blutdruck und Herzprobleme ins Feld, ein Arzt riet vom langen Flug ab. Die Befragung fand dann doch statt, via Skype: Pell saß dafür in einem römischen Hotel.

Der Papst beließ ihn im Amt, er legte es nur auf Eis - wohl in der Hoffnung, Pell komme bald wieder heim mit reingewaschenem Namen. Die Verurteilung ändert nun nichts daran: Der Vatikan hat den Status Pells am Dienstag offiziell bestätigt. Der Kardinal bleibt also in seinem Amt, darf seine Funktion aber weder öffentlich ausüben noch mit Minderjährigen in Kontakt treten, bis es "definitive Fakten" gebe. "Das ist eine schmerzhafte Nachricht", sagte ein Sprecher des Vatikans. "Wir sind uns sehr bewusst, dass sie viele Menschen nicht nur in Australien schockiert hat." Doch Pell beteuere nach wie vor seine Unschuld und habe ein Recht darauf, sich bis zur letzten Instanz zu verteidigen.

Pells Personalie ist eine besonders gewichtige. Er ist der Chef des Sekretariats für Wirtschaft, zuständig für alle wirtschaftlichen Aktivitäten des Vatikans, inklusive des IOR, der sagenumwobenen Vatikanbank. Wollte man das Organigramm des Vatikans mit einer weltlichen Staatsspitze vergleichen, sähe das so aus: Ganz oben sitzt der Papst als absoluter Monarch; darunter kommt Pietro Parolin, der "Staatssekretär Seiner Heiligkeit", so etwas wie Premier- und Außenminister in Personalunion; gleich darunter - oder gleichauf - rangiert George Pell, der Superminister für Wirtschaft und Finanzen. Darum nennt man ihn die "Nummer drei" des Vatikans, obschon es diese Bezeichnung gar nicht gibt.

Die Schaffung des Sekretariats für Wirtschaft ist bis heute eine der revolutionärsten Handlungen im bisherigen Pontifikat von Jorge Mario Bergoglio. Sie trug ihm zu Beginn seiner Amtszeit viel Lob ein. Es hieß, Franziskus kappe endlich alte Seilschaften in der römischen Kurie: furchtlos, entschlossen, bemüht um Transparenz. Pell schien die ideale Besetzung zu sein, auch körperlich. In der Jugend hatte er Australian Football gespielt, eine härtere Variante von Rugby, vermischt mit Elementen des Fußballs. Wegen seiner imposanten Körpergröße und dem nicht minder auffälligen Ego nannte man ihn auch "Big George". Immer markig im Auftritt, gerne auch polemisch. Der Anpacker aus einfachen Verhältnissen würde sich nicht scheuen, dem alten System notfalls die Knochen zu brechen, konnte man damals lesen. Machtintrigen? Würde er locker wegstecken mit seiner rustikalen Art.

Doch dann holte Pell die Vergangenheit ein. Verdachtsfälle gab es schon aus seiner Zeit als Priester in Ballarat, seinem Heimatort im Bundesstaat Victoria, in den Siebzigern. Er soll damals Kinder im Schwimmbad sexuell belästigt haben.

Sein Fall ist ein Fanal. Er wirft mal wieder die Frage auf, wie einer wie Pell Karriere machen konnte in der katholischen Kirche, bis hart ans Bein des Stuhls Petri. Oder einer wie Theodore McCarrick, der frühere Erzbischof von Washington D.C., ein serieller Missbrauchstäter, der erst vor einigen Wochen in den Laienstand versetzt wurde. Was läuft da schief in der Personalpolitik des Vatikans?

War Franziskus einfach zu gutgläubig?

Oder ist es schlimmer: Verfiel die Kirche bisher ihrer Selbstlüge, dass im Grunde alles nicht so arg ist, dass die Medien die Skandale aufbauschten, dass es schließlich überall in der Gesellschaft Missbrauch gibt? War Franziskus einfach zu gutgläubig?

Neben Pell entließ der Papst im Dezember auch den chilenischen Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa aus dem K9. Der ist zwar tatsächlich schon 85 Jahre alt. Doch er wurde wohl nicht deshalb aussortiert. In seiner Heimat wird Errázuriz vorgeworfen, er habe jahrelang Täter aus dem anvertrauten Klerus gedeckt. Täuschte er auch den Papst? Als Franziskus voriges Jahr Chile besuchte, verstörte er die Gläubigen damit, dass er mit harschen Worten einen Bischof verteidigte, dem vorgeworfen wird, Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Später entschuldigte er sich. Er sei mangelhaft informiert gewesen. Die passende Unterrichtung wäre wohl die Aufgabe des Kardinals gewesen.

Der Vorfall in Chile lastete schwer auf der Glaubwürdigkeit des Papstes. Die Welt fragte sich, ob Franziskus es tatsächlich ernst meine mit seinem Bekenntnis, die Schande des Missbrauchs mit aller Macht zu bekämpfen. Die Kinderschutzkonferenz war ein Versuch, diesem Bekenntnis Nachdruck zu verleihen und es konkret zu machen. Es blieb beim Versuch.

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Quelle:
SZ vom 27.02.2019/fzg/cat
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