Völkermord an den Armeniern:Was am Berg der Tapferen geschah

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Gezeichnet: ein Überlebender der Schlacht von Musa Dagh. (Foto: Wolfgang Kunz/Bilderberg)

Erst heute ist deutlich, wie verstrickt Deutschland in den Genozid an den Armeniern 1915 war. Dabei klang die Mitschuld schon in Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" an.

Von Christiane Schlötzer

In einer Zeit, als man noch Briefe schrieb, notierte man gern auch Banales. "Mir geht es bis auf einen tüchtigen Schnupfen, den ich mir neulich im Libanon geholt habe, ganz gut."

So schrieb der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg am 30. März 1915 an seinen Vater. Wolffskeel, der aus Bayern stammte, befand sich da gerade im südöstlichen Anatolien, nahe der Kreisstadt Maras, die heute Kahramanmaras heißt, unweit der syrischen Grenze.

Der Deutsche und die Türken staunten über den Widerstand

Das Osmanische Reich und Deutschland waren im Ersten Weltkrieg Waffenbrüder, und der Mann aus Bayern diente als Stabschef einem türkischen Pascha. "Da liegt im Norden meines Bezirks ein Nest namens Zeitun, der Hauptsitz der in der Gegend hausenden Armenier", hielt Wolffskeel fest.

Später berichtete er auch nach Hause, was er von den Armeniern hielt. Diese, so der Graf, brächten nur "mangelhaftes Verständnis" für das "freundliche Angebot" der türkischen Regierung auf, "sie anderweitig anzusiedeln".

Als Wolffskeel dies dem Vater mitteilte, war er schon unterwegs zum Musa Dagh, dem Mosesberg. Dort hatten sich Armenier bewaffnet und auf einem Hochplateau verschanzt. Mit so viel Unbotmäßigkeit hatten weder der deutsche Offizier gerechnet noch die in Istanbul zu jener Zeit diktatorisch regierenden Jungtürken.

Sie staunten, dass sich da ein paar Tausend Dörfler gegen ihre erzwungene "Umsiedlung" wehrten - gegen die Deportationen, die für die Mehrzahl der Menschen tatsächlich in den Tod führten.

Ein deutscher Offizier an den Orten des Völkermords an den Armeniern? Wolffskeel war nicht der einzige. Soldaten der kaiserlichen deutschen Armee nahmen höchste Positionen im osmanischen Militär ein. Sie sahen zu und wussten von den Grausamkeiten; einige, nicht alle, billigten sie oder halfen gar dabei mit.

Andere wiederum - auch deutsche Militärangehörige, Diplomaten, Krankenschwestern und Kirchenmänner - wollten das Morden stoppen. Aber sie wurden nicht gehört, übergangen oder entmachtet.

Deutschland wollte Weltmacht werden, strebte nach einem "Platz an der Sonne", und "das imperiale Ziel war wichtiger als die sterbenden Armenier". So schreibt der in Istanbul lebende Journalist Jürgen Gottschlich in seinem gerade erschienenen Buch "Beihilfe zum Völkermord" über "Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier" (Ch. Links Verlag, Berlin, 2015), in dem er auch aus den Wolffskeel-Briefen zitiert.

Armenische Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich 1915 in Syrien (Foto: dpa)

Seit der Autor Wolfgang Gust 2005 die "Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes" herausgeben hat, ist die deutsche Mitwisserschaft an den Morden im fernen Anatolien kein Geheimnis mehr. Gottschlich hat auch in türkischen Archiven recherchiert, wobei der türkische Generalstab eher Gesäubertes freigab. Was man weiß, ist aber erschreckend genug. Und wenn das Gemeinmachen mit einem Verbrechen im Plauderton privater Korrespondenzen daherkommt, wirkt dies nicht weniger abgründig.

Noch einmal der Major aus Bayern, diesmal aus Urfa an seine Frau Sofie Henriette, im Oktober 1915: "Hier haben wir nun diese Tage die genommene Stadt gründlich nach versteckten, aufständischen Armeniern und Waffen durchsucht . . . Manchmal wehrt sich noch ein besonders Fanatischer. Die meisten ergeben sich aber ohne Widerstand, wenn sie entdeckt sind."

Am Musa Dagh in der Provinz Antiochia (dem heutigen Antakya) kam Wolffskeel allerdings zu spät, da hatten sich die 4058 überlebenden Armenier schon auf mehrere französische und ein britisches Kriegsschiff gerettet.

Zuvor hatten sie sich erfolgreich gegen mehrere Angriffwellen osmanischer Soldaten verteidigt - 53 Tage lang. Der Schriftsteller Franz Werfel hat die Ereignisse später auf ein paar wenige Tage verdichtet, in seinem großen Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh".

Das Buch ist eine atemberaubende, in vielem wahrheitsgetreue Nacherzählung des aus der Verzweiflung geborenen Widerstands der Menschen in den sechs Dörfern (bei Werfel sind es sieben) auf dem 1281 Meter hohen Mosesberg.

Als sie sich Mitte Juli 1915 entschließen, aus ihren Häusern in eine improvisierte Zeltstadt auf einer Anhöhe zu ziehen und Schützengräben anzulegen, da wissen sie schon, dass ein paar Wochen zuvor, am 24. April, in Istanbul die 300 führenden Persönlichkeiten der armenischen Gemeinschaft deportiert worden sind.

Völkermord an den Armeniern
:Zum Sterben in die Wüste getrieben

Am 24. April 1915 begann die armenische Katastrophe. Zeitgenössische Bilder zeugen von Vertreibung, Hunger und Tod. Sie sind bis heute ein wichtiger Beweis für den Völkermord.

Der 24. April gilt heute weltweit als der Tag des Gedenkens an die massenmörderische Vertreibung des allergrößten Teils der armenischen Bevölkerung vom Boden der heutigen Türkei.

Der Minister begründet die Niederlage mit einer Dolchstoßlegende

Die Kunde des April-Ereignisses hatte sich auch vor 100 Jahren schon rasch verbreitet - bis zu dem mehr als 800 Kilometer von Istanbul entfernten Musa Dagh. Auch hatten die Armenier schon Kunde von den todbringenden Trecks der Elenden aus anderen Orten des Landes.

Die Macht lag in Istanbul damals in den Händen eines Triumvirats der ursprünglich reformorientierten, aber zunehmend nationalistischen Jungtürken, die den Sultan praktisch zur Seite gedrängt hatten: bei Kriegsminister Enver Pascha, Innenminister Talat und Marineminister Cemal. Ihr Reich war schon im Zerfall begriffen und von muslimischen Flüchtlingen aus dem Balkan überschwemmt.

(Foto: Grafik)

Im Westen versuchten Briten und Franzosen über die Meerenge der Dardanellen den Durchbruch nach Istanbul, im Osten hatte Enver schon 100 000 jämmerlich ausgerüstete Soldaten in einer nutzlosen Winterschlacht gegen die überlegenen Russen geopfert.

Nach dieser Niederlage kam dem Kriegsminister eine Dolchstoßlegende gerade recht: Die christlichen Armenier in der osmanischen Armee hätten sich massenhaft auf die Seite der Russen geschlagen, wurde kolportiert. Es gab armenische Deserteure und eine mit Russland sympathisierende Nationalbewegung der Armenier. Aber für die Vernichtungspolitik Envers war dies nur der Vorwand.

Auch das hält ein Deutscher fest, der damalige Botschafter Paul Graf Wolff Metternich in einem Brief an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: "Enver Pascha und Halil Bey verschanzen sich hinter Kriegsnotwendigkeiten, dass Aufrührer bestraft werden müssen, und gehen der Anklage aus dem Weg, dass Hunderttausende von Frauen, Kindern und Greisen ins Elend gestoßen werden und umkommen."

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (re.) mit dem deutschen Kaiser Kaiser Wilhelm II. bei einer Automobilfahrt in Swinemünde. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Der deutsche Reichskanzler reagiert äußerst kühl. Er lässt das Auswärtige Amt in Berlin wissen: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht." Und Metternich, der Mahner? Er wird als Botschafter am Bosporus nach nur zehn Monaten schon im September 1916 wieder abberufen.

Der Musa Dagh ist im Frühling ein grün schimmerndes Paradies. Der Dichter Werfel schwärmt von einem "zauberhaft" begnadeten Berg, mit satten Almen, Wein- und Aprikosengärten und unzähligen Quellen, die "als schleiernde Kaskaden ins Meer" fallen. Werfel, 1890 in Prag geboren, beschreibt einen Ort, der friedlicher kaum sein könnte, bis die Katastrophe auch diesen Küstenstrich "außerhalb der Welt" am Golf von Alexandrette (dem heutigen Iskenderun) erreicht.

Werfel war 1930 mit seiner Frau Alma in der Region unterwegs. Er begegnete dort armenischen Waisenkindern, deren Zustand ihn so erschütterte, dass er versuchte, Erwachsene zu finden, die das Grauen überlebt hatten.

Schriftsteller Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel. (Foto: DPA)

Damals waren viele Armenier schon wieder auf den Musa Dagh zurückgekehrt, da die heutige Provinz Antakya nach dem Ersten Weltkrieg 1919 erst einmal französisches Mandatsgebiet wurde. 1939 fiel sie nach einer Volksabstimmung dann an die 1923 gegründete Türkische Republik, worauf die meisten Armenier wieder auswanderten. Bis auf die Bewohner von Vakifli Köy, das noch heute das letzte armenische Dorf auf dem Musa Dagh ist.

Werfel unternahm für seinen Roman intensive historische Studien. Als das Buch im November 1933 herauskommt, ist aus Deutschland schon das Dritte Reich geworden, und das fast 1000 Seiten starke Buch wird zwei Monate nach Erscheinen verboten. Werfels Werke werden in Deutschland verbrannt. Der Schriftsteller und seine Frau Alma sind bald selbst Flüchtlinge. Zu Fuß überqueren sie die Pyrenäen. Ein Schiff bringt sie nach New York. Franz Werfel stirbt im August 1945 in den USA.

Prophetisch hat er die armenischen Todeskarawanen als "wandernde Konzentrationslager" bezeichnet. In seinem Roman lässt er auch einen Scheich auftreten. Der Jude Werfel legt diesem Muslim in den Mund: "Nationalismus, die Krankheit Europas, füllt die leere Stelle aus, die Allah zurücklässt, wenn er aus dem Herzen vertrieben wird."

Leichen ermordeter Armenier. (Foto: AP)

Eine der eindrücklichsten Szenen aus dem Roman beschreibt die Begegnung des evangelischen Pastors Johannes Lepsius mit dem "Kriegsgott des ottomanischen Reiches", mit Enver Pascha. Lepsius staunt, wie klein Enver ist und muss an Napoleon denken.

Zunächst versucht der Pastor, dem das Schicksal der Armenier schon seit Jahren am Herzen liegt, zu schmeicheln: "Exzellenz besitzen in Deutschland eine große Zahl von ergebenen Bewunderern. Man erwartet von Ihnen weltbewegende Taten." Dann schneidet Lepsius die "armenische Frage" an und klagt: "Die Ortsbehörden richten die Deportationen so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsunfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär umbringen lässt."

Enver lässt sich weder beeindrucken noch erweichen. Er stellt dem Bittenden vielmehr die Gegenfrage, wie Deutschland denn "unter anderen Umständen innere Feinde" behandeln würde, "Polen, Sozialdemokraten, Juden"? So fragt der Türke. Lepsius gibt nicht auf und wagt ein letztes Argument: "Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Kann das Segen bringen?"

Etwas später lässt der Dichter den mächtigen osmanischen Innenminister Talat, dem Enver Pascha von der Begegnung mit dem Pastor erzählt hat, noch einen Schlüsselsatz sagen: "Diese Deutschen fürchten ja nur das Odium der Mitverantwortlichkeit." Werfel war, das wird an dieser Stelle deutlich, die deutsche Verstrickung durchaus bewusst.

Der Pastor will Patriot sein

Der reale Lepsius aber schweigt später zur deutschen Komplizenschaft, wie man bei Gottschlich nachlesen kann. Der Pastor will eben auch ein deutscher Patriot sein. Er macht lieber generell den europäischen Mächten Vorwürfe: Das armenische Volk sei Opfer der politischen Interessen Russlands und Englands geworden. Für die rivalisierenden Mächte sei der "Schutz der Christen" im Orient nur ein Vorwand gewesen. Dafür hätten die Armenier schon im 19. Jahrhundert mit Verfolgung bezahlt.

Lepsius sagt dies im Juni 1921 als Sachverständiger im Prozess gegen den Attentäter Soghomon Tehlirjan. Der armenische Student hat in Berlin den inzwischen entmachteten Türken Talat auf offener Straße erschossen. Es ist ein Racheakt.

Kriegsminister Enver Pascha (li.) inspiziert mit Innenminister Talât Pascha in Konstantinopel eine Stellung. Im Hintergrund die Pionierkompanie, die den Schützengraben aushob. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Talat lebte nach seiner mit deutscher Hilfe bewerkstelligten Flucht aus Istanbul zuletzt in Berlin-Charlottenburg. Sein Mörder wird als unzurechnungsfähig freigesprochen. Man wollte größeres Aufsehen durch einen langen Prozess vermeiden. Tehlirjan hatte seine Familie durch den Völkermord verloren.

Werfels Roman gibt es seit über zehn Jahren auch schon in türkischer Übersetzung, gedruckt mittlerweile in mehreren Auflagen in Istanbul. Im Anhang mehrere halb verblasste Fotos. Sie zeigen die auf den rettenden Schiffen zusammengedrängten Menschen - Bilder, die an heutige Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer erinnern.

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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