Man kann den Lauf der Welt erklären, indem man über die G 20 in Los Cabos, den Umweltgipfel in Rio oder den Bürgerentscheid zur Münchner Startbahn schreibt; man kann aber auch mal mit Olching, Oberbayern, anfangen. Eine Gemeinde westlich der Landeshauptstadt, mit einem Bürgermeister namens Magg. In dem Ort wird über den Sommer eine der Hauptstraßen saniert, der Verkehr durch die einzige Seitenstraße an jener Stelle umgeleitet. Die Anwohner ärgern sich, und einer hat ein Transparent gespannt: "900 Autos pro Stunde. Vielen Dank, Herr Magg!" Die Politik, diesmal die lokale, hat schon wieder versagt, zumindest gemessen an den Ansprüchen, die Bürger letztlich an sie stellen - ihnen ein Leben ohne Zumutungen zu organisieren.
Die Leute halten nichts mehr aus. In Wahrheit sind besonders weite Teile der Mittel- und der Oberschicht zutiefst von der Erfahrung geprägt, dass es ausschließlich immer weiter und immer komfortabler geht. Wer sich vor 20 Jahren einen Fiat Punto als Zweitwagen hielt, bei dem ist es heute ein Pick-up, der in den Carport muss. Zur Abiturfeier kleiden sich die Kinder mittlerweile ein, als ginge es zum Opernball; in der Zeit bis zum Beginn des Studiums sind sie dann nicht mehr mit Inter-Rail unterwegs, sondern im Flugzeug zum Trecking nach Neuseeland oder Bali. Auf welche Vergnügungen werden wohl eines Tages deren Kinder Anspruch erheben?
Gewerkschaften sind immer ein guter Seismograph dafür, wie die Stimmung ist - weil sie nicht nur die legitimen Interessen von Arbeitnehmern vertreten, sondern gelegentlich auch jedes Anspruchsdenken durchreichen, ohne groß zu reflektieren. Der Internationale Gewerkschaftsbund hat soeben in 13 Ländern nachfragen lassen, was die Menschen von der Politik verlangen und was sie zugleich annehmen, wie's wohl kommt. Eine der Fragen war: Glauben Sie, dass es künftigen Generationen besser oder schlechter gehen wird als Ihrer eigenen?
Zumutungen sind verboten
Die Frage ist viel interessanter als manche der Antworten darauf - weil sie sich ebenso simpel wie subtil das Grundanliegen zu eigen macht, das noch jede Elterngeneration von der vorherigen übernommen hat: Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir. Es ist dies nur leider exakt die Maxime, die die Welt in jene Situation geführt hat, aus der nun kein Politiker in Los Cabos, Rio oder sonstwo einen Ausweg findet.
Die Menschen vor allem in den Industrieländern haben in den vergangenen Jahrzehnten das Gefühl für die Knappheit der Ressourcen verloren, der finanziellen wie der natürlichen. Von beidem, Geld und intakter Umwelt, war scheinbar immer genug da. Kein Familienvater muss den Besuch des Gerichtsvollziehers fürchten, weil der Staat, dessen Bürger er ist, überschuldet ist. Und die Natur schickt sowieso keine Rechnung. Dass aber demnächst die Quittung kommt, immerhin das ahnen die Leute. 85 Prozent der Deutschen sind laut Gewerkschaftsumfrage der Meinung, künftigen Generationen werde es schlechter als der heutigen gehen.
Internationale Gipfeltreffen scheitern doch nicht daran, dass die dort versammelten Politiker feige, doof oder korrupt wären. Ja, zu den G 20 nach Los Cabos in Mexiko ist Angela Merkel geflogen, ohne mit Sensationen zurückgekommen zu sein. Ja, die Umweltkonferenz in Rio hat nicht die Meere gerettet, sondern nur die Welt weiter mit "Bekräftigen", "Betonen" und ähnlichen Floskeln verseucht. Aber was für Alternativen hätten die Politiker gehabt?
Politiker sind, in einem sehr wörtlichen Sinne, Repräsentanten ihrer Bürger. Für Uneigennützigkeit sind sie genauso gut oder schlecht geeignet wie jeder andere auch; sie sind im Grunde eine Art Unternehmer - nur dass sie (in der Regel) nicht einen in Geld gemessenen Gewinn, sondern die Sicherung ihrer Herrschaft erstreben. Selten ist ein Politiker an die Macht gekommen, weil er den Leuten im Wahlkampf aufgelistet hat, welches Sparprogramm oder welche Steuererhöhung er ihnen zumuten wird.
Würde ein Minister es riskieren, öffentlich zu bezweifeln, dass die Kinder es nochmal besser haben sollen als die Eltern von heute: Den Aufschrei möchte man erleben. Dabei gefährdet doch bereits der heutige Lebensstandard - mit Neuseeland und Pick-up - langfristig das Leben an sich. Doch um eine "Ethik des Genug" fordern zu können, muss man wohl Pfarrer sein; Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat diese Formulierung vor ein paar Tagen gewählt. Ein Pfarrer riskiert damit nichts, allerdings versandet es, wenn der so etwas sagt. Typisch Kirche eben, heißt es dann, die Misanthropen vom Dienst.
Stuttgart 21 am Gartenzaun
Man überzeugt den Menschen nicht mit dem Hinweis, dass Ressourcen endlich sind. Im Gegenteil, das führt nur dazu, dass es zu einem Rennen um die verbliebenen kommt. Von denen möchte dann jeder so viel abbekommen, wie es nur geht. Schon gar nicht überzeugt man den Menschen mit Hinweisen, welchen Stress der so liebgewonnene Lebensstandard nach sich zieht. 900 Autos pro Stunde, das führt allenfalls dazu, dass einer ein Transparent bastelt und am Gartenzaun sein persönliches Stuttgart 21 veranstaltet.
Auch dass die Münchner am vergangenen Sonntag die dritte Startbahn an Deutschlands zweitgrößtem Flughafen ablehnten, war doch kein Indiz dafür, dass der Mensch gerade dabei ist, sich neu zu erfinden. Ein bisschen Unbehagen, was Wachstum betrifft, mag in dem Votum zum Ausdruck gekommen sein. Vor allem aber war es ein Nein, das jeder sich bequem leisten konnte: kostet ja nichts.
Zumutungen fallen den Menschen umso schwerer, je länger sie ihnen entwöhnt sind, und die Energiewende wird in Deutschland nur so lange unumstritten sein, wie über deren Kosten nichts Konkretes bekannt ist. Sollte der Atomausstieg verschoben werden, damit die Strompreise "nicht so stark" steigen? Dies haben Meinungsforscher im Auftrag der ARD in diesem Juni erfragt. Die Möglichkeit von Mehrkosten deuteten sie also nur mal an. Und schon gab gut jeder Zweite zur Antwort: lieber verschieben.
Zu überzeugen ist die Menschheit wahrscheinlich nur durch zwei Wege - Katastrophe oder Erfolg. Das Klima und die Meere werden wohl kaum mehr auf internationalen Konferenzen gerettet werden, zumindest nicht im Plenarsaal. Sieben Milliarden Menschen werden sich niemals zum kollektiven Verzicht verabreden (oder anschließend gar daran halten).
Im Grunde sind Konferenzen vor allem deshalb sinnvoll, weil es in den Kongresshallen Foyers gibt. In denen präsentieren Unternehmen Ideen, wie sich mit Umweltschutz Geschäfte machen lassen. In denen erklären deutsche Ingenieure, dass sie nicht nur Autos und Maschinen bauen, sondern auch die energy-wende konstruieren können. Sollten sie das eines Tages sogar schaffen, wird sich bei anderen schon die Gier regen. Noch jeder erfolgreiche Pionier hat Nachahmer zur Folge gehabt. Der Mensch ist, wie er ist.