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Frankreich:"Macron will, dass jeder für sich kämpft"

Generalstreik heißt in diesem Land auch: Das rechte und linke politische Spektrum sind sich in ihrer Wut auf Präsident Macron einig. Das Volk hingegen sendet eher widersprüchliche Signale.

Von Nadia Pantel, Paris

Manchmal erinnern diese französischen Streiktage eher an ein sportliches Großereignis, denn an Politik. Der Sport beginnt im Privaten, wenn man zur Arbeit läuft oder radelt, weil die Züge nicht fahren. Er setzt sich im Fernsehen fort, wenn am Mittwoch über die Ansprache von Premierminister Édouard Philippe zur Rentenreform berichtet wird, wie über ein bevorstehendes Match. In 13 Minuten ist es so weit! Hui, jetzt sind es nur noch zehn! Nach der Rede dann Schnitt zu den Gewerkschaftsführern. Zornige Gesichter, Enttäuschung. Man könnte direkt ein großes Daumen-nach-unten-Symbol einblenden.

Philippe kündigte an, dass Menschen, die mehr als 120 000 Euro im Jahr verdienen, künftig mehr in die Rentenkasse einzahlen müssen als bisher, um Entlastungen für Frauen, Familien und Krankenpfleger zu finanzieren. Er versprach, dass sich eine Sache nicht ändern werde: Frankreichs Rente soll die großzügigste in ganz Europa bleiben. Doch bei den Gewerkschaften blieb nur eines hängen: Künftig müssen alle bis 64 Jahre arbeiten. Obwohl Präsident Emmanuel Macron versprochen hatte, das offizielle Renteneintrittsalter von 62 Jahren nicht anzutasten.

In Regierungslogik klingt die neue Regelung so: Man wolle "Anreize schaffen, dass die Menschen länger arbeiten". Daher gibt es Abzüge, wenn man mit 62 in Rente geht und Bonuszahlungen, wenn man bis 64 durchhält. Ein unangetastetes Rentenalter sieht anders aus. Am Abend muss man den Fernseher leiser stellen, weil sich Gewerkschaften und Regierungsmitglieder anschreien. Am Donnerstag ruft auch die gemäßigte und größte Gewerkschaft CFDT zum Demonstrieren auf. Obwohl sie die Ansicht der Regierung teilt, eine Universalrente, ohne die Spezialkassen, wäre besser.

Bis Weihnachten werden nun Gegner und Befürworter der Reform zählen, wie viele Menschen demonstrieren (zum Streikauftakt waren es 800 000). Sie werden versuchen, zu erahnen, gegen wen sich der Zorn richtet, wenn die wenigen Züge, die fahren, so voll sind, dass Sicherheitspersonal den Bahnsteig absperren muss. Sind die gestrandeten Pendler sauer auf die Gewerkschaften oder auf die Regierung?

"Macron will, dass jeder für sich kämpft"

Die Umfragen geben keine eindeutige Antwort. Laut Meinungsforschungsinstitut Harris Interactive unterstützen 59 Prozent der Befragten den Streik. Gleichzeitig finden 54 Prozent der Befragten es gut, dass Sonderregelungen abgeschafft werden. Aber zwei Jahre mehr arbeiten, wie Philippe es präsentiert hat, halten nur 34 Prozent der Befragten für eine gute Idee.

Dienstagmittag, linkes Seineufer, an der Place Vauban. Laurence Bernard steigt aus dem Bus aus, den die Gewerkschaft CGT gechartert hat, um Mitglieder aus Val d'Oise zur Demo nach Paris zu fahren. Bernard ist 50 Jahre alt und Beamtin. Sie ist hier, weil sich "jetzt entscheidet, in welchem System wir leben werden". "Wir wollen Solidarität", sagt Bernard, "Macron will, dass jeder für sich kämpft." Es gab Momente in Macrons Amtszeit, da war dieser Satz zutreffender. Zum Beispiel als der Präsident 2017 per Verordnung die Rechte der Arbeitnehmer schwächte. Der Aufstand blieb aus. Eine wirkliche Mobilisierung gelingt den Gewerkschaften erst jetzt. Rentner wird schließlich jeder irgendwann.

An Bernard laufen Menschen in gelber Warnweste vorbei. Überreste der Gilet-jaunes-Bewegung, die sich dem Protest der Gewerkschaften angeschlossen haben. Fuhr man dieses Jahr durch Frankreich und fragte die Menschen, die am Kreisverkehr demonstrierten, was sich ändern soll, hörte man oft, der Reichtum müsse besser verteilt werden. Fragte man den Menschen in gelber Weste dann, ob er links ist, kam oft ein Schnaufen. "Pfui! Bitte keine Politik."

War das nicht frustrierend für Sie, Madame Bernard, all die Menschen, die ihre Ideen teilen und sie gleichzeitig ablehnen? Sie seufzt. "Die Leute haben eine Solidarität für sich neu erfunden, die wir schon lange fordern." Einer ihrer Mitstreiter ist optimistisch: "Irgendwann werden die merken, dass es die Alternativen, die sie suchen, schon gibt. Das braucht halt Zeit."

Ein Stück weiter vorn auf der Demo steht Jean-Luc Mélenchon von der France Insoumise. Die Partei, die er gegründet hat, damit es links von den Sozialisten eine Alternative gibt. Heute gibt es rechts von Mélenchon nur noch eine Lücke und dann Macron. "Der ist echt ein Star", sagt ein Schüler zu seinem Freund, beide filmen mit ihren Handys, wie zehn Kamerateams Mélenchon filmen.

Linke und Rechte sind sich einig, dass Macron Frankreich zu Grunde richtet

Neben dem Trubel steht Sarah Legrain, France-Insoumise-Mitglied von Anfang an. Sie sieht in der Reform eine Chance: "Wenn wir die Rentenreform kippen, können wir zum ersten Mal zeigen, dass man Macron eben doch stoppen kann." Der Streit um die Rente ist die große Stunde der France Insoumise. Man kann den Linken zustimmen oder nicht, doch sie stehen seit Jahren für eine umfassende Gesellschaftsveränderung, die auf Umverteilung basiert. Sie sagen nun nicht nur "Nein", sondern "lieber alles anders".

Am Abend, im Fernsehen, sitzt Adrien Quatennens, 29 Jahre, von der France Insoumise neben Jordan Bardella, 24 Jahre, von Marine Le Pens rechtsradikalem Rassemblement National. Beide sind wütend, beide sind sich einig, dass Macron Frankreich zu Grunde richtet. Vor dem gemeinsamen Feind verwischen die Gegensätze. Links sein heißt in diesen Wochen in Frankreich, dass man keine Zeit hat, sich über Rechtsextreme Gedanken zu machen. Der Gegner heißt Macron, nicht Le Pen.

Tauchen auf den Gewerkschaftsdemos Rechtsradikale auf, werden sie von den Ordnern aus der Menge gezogen und nach Hause geschickt. Die Grenzen erscheinen den Linken so klar, dass sie sie nicht mehr diskutieren wollen. Le Pen unterstützt den Streik, das haben Frankreichs Rechte noch nie getan. Mélenchon kommentiert, Le Pen habe eben den "Humanismus" entdeckt. Auf der Demo reagiert Lehrerin Sarah Legrain genervt, wenn man sie zu dieser Aussage befragt. Es sei doch völlig klar, dass Mélenchon einen Scherz gemacht habe: "Jeder Arbeiter, der Le Pen wählt, stimmt gegen seine Interessen." Dass die Rassistin sei und somit keine Werte mit der France Insoumise teile "muss ich doch niemandem erklären". Aber: "Ich will nicht mein Leben damit verbringen, mich von Le Pen abzugrenzen. Wir haben ja unser eigenes Projekt."

Im Fernsehstudio, nach 22 Uhr am Mittwochabend, streitet der Linke Quatennens für die Arbeiterrechte. Neben ihm sitzt der rechte Bardella und sagt einfach nur mit trauriger Stimme: "Diese Regierung ist leider sehr gut darin, den Franzosen Angst zu machen. Ich glaube, kurz vor Weihnachten hat niemand diesen Ärger gebraucht." Wirtschaftspolitisch hat Le Pen keine klare Identität. Je nachdem, welcher ihrer Berater gerade die Oberhand hat, gibt sie sich liberal oder sozialistisch. Aktuell zeigt ihr Kompass eher nach links. Im aktuellen Großkonflikt nimmt sie die Rolle ein, die sie bestens beherrscht: die der heimlichen Siegerin.

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SZ vom 13.12.2019/cck
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